Leben und Schicksal
Funkgerät hinüber.
Nowikows Gesicht verblüffte Getmanow. Es war anders als in all diesen Monaten, seit er es kannte: zornig, besorgt, hochmütig, froh und finster.
Die nicht zerstörten rumänischen Batterien kamen eine nach der anderen zu sich und schossen aus der Tiefe mit schnellem Feuer auf die vordere Linie. Schwere Fliegerabwehrgeschütze eröffneten das Feuer auf Erdziele.
»Pjotr Pawlowitsch«, sagte Getmanow aufgeregt, »es ist Zeit! Wo gehobelt wird, da fallen Späne!«
Die Notwendigkeit, Menschen im Interesse der Sache zu opfern, war für ihn immer natürlich, unbestreitbar gewesen – nicht nur während des Krieges.
Nowikow aber zögerte; er befahl, eine Verbindung zum Kommandeur des schweren Artillerieregiments, Lopatin, herzustellen, dessen Geschütze soeben daran gearbeitet hatten, die für die Panzer vorgesehene Bewegungsachse freizuschießen.
»Pass auf, Pjotr Pawlowitsch, Tolbuchin wird dich fressen«, sagte Getmanow und zeigte auf seine Armbanduhr.
Nicht nur Getmanow, auch sich selbst wollte Nowikow sein beschämendes, verworrenes Gefühl nicht eingestehen.
»Wir würden zu viele Panzer verlieren«, sagte er. »Es tut mir um die schönen T-34 leid, es ist doch eine Frage von wenigen Minuten. Wir sollten erst die Luft- und Panzerabwehr zum Schweigen bringen. Die Batterien liegen doch wie auf dem Präsentierteller vor uns.«
Vor ihnen qualmte die Steppe, die Männer, die neben ihm im Schutzgraben standen, ließen ihn nicht aus den Augen: Die Kommandeure der Panzerbrigaden warteten auf seinen Funkbefehl.
Er war von professioneller Kriegsleidenschaft gepackt, er zitterte vor Ehrgeiz und Spannung, Getmanow spornte ihn an, und er hatte Angst vor den Vorgesetzten.
Nowikow wusste genau, dass man seine Worte an Lopatin nicht in der Geschichtsabteilung des Generalstabs erforschen würde, dass sie ihm kein Lob von Stalin und Schukow und auch nicht den heißersehnten Suworow-Orden einbringen würden.
Es gibt ein höheres Recht als das Recht, Menschen bedenkenlos in den Tod zu schicken. Es gibt das Recht, nachzudenken, während man andere in den Tod schickt. Nowikow nahm diese Verantwortung auf sich.
11
Im Kreml wartete Stalin auf den Bericht des Oberbefehlshabers der Stalingrader Front.
Er schaute auf die Uhr: Die Artillerievorbereitung war soeben beendet, die Infanterie setzte sich in Bewegung, die motorisierten Kompanien schickten sich an, in die von der Artillerie geschlagene Bresche vorzudringen. Die Maschinen der Luftwaffe bombardierten das Hinterland, die Zufahrtswege und die Flugplätze des Feindes.
Vor zehn Minuten hatte er mit Watutin gesprochen. Der Vormarsch der Panzer- und Kavallerieeinheiten der Südwestfront überstieg alle Erwartungen.
Stalin nahm einen Bleistift, betrachtete das schweigende Telefon. Er wollte die Anfangsbewegung der Südzange auf der Karte kennzeichnen. Doch eine abergläubische Regung zwang ihn, den Bleistift zur Seite zu legen. Er spürte ganz deutlich, dass Hitler in diesen Minuten an ihn dachte und wusste, dass auch er an Hitler dachte.
Churchill und Roosevelt glaubten an ihn, aber er verstand, dass ihr Vertrauen nicht endgültig war. Sie verärgerten ihn damit, dass sie bereitwillig mit ihm verhandelten, sich aber zunächst untereinander absprachen, bevor sie ihn zu Rate zogen. Sie wussten: Der Krieg kommt und geht, die Politik aber bleibt. Sie bewunderten seine Logik, sein Wissen, die Klarheit seiner Gedanken, erbosten ihn aber dadurch, dass sie ihn trotzdem als asiatischen Herrscher und nicht als europäischen Staatsmann ansahen.
Plötzlich erinnerte er sich an Trotzkis mitleidslos kluge, verächtlich zu Schlitzen verengte, stechende Augen und bedauerte zum ersten Mal, dass jener nicht mehr lebte: Hätte er doch vom heutigen Tag erfahren!
Stalin fühlte sich glücklich, physisch stark, der hässliche Bleigeschmack im Mund war fort, er hatte keine Herzbeschwerden mehr. Für ihn waren Lebensgefühl und das Gefühl körperlicher Kraft eins. Von den ersten Kriegstagen an hatte Stalin unter körperlichen Beschwerden gelitten. Dieses Unwohlsein verließ ihn auch nicht, wenn Marschälle, von seinem Zorn eingeschüchtert, totenblass vor ihm strammstanden und wenn ihn Menschenmengen mit stehendem Applaus im Bolschoi-Theater begrüßten. Er hatte ständig das Gefühl, dass sich die Menschen in seiner Umgebung heimlich über ihn lustig machten, wenn sie an seine Ratlosigkeit im Sommer 1941 dachten.
Einmal, in Anwesenheit Molotows, hatte er sich an den Kopf
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