Leben und Schicksal
gefasst und gemurmelt: »Was tun … was tun …« Während einer Sitzung des Staatlichen Verteidigungskomitees hatte seine Stimme versagt, und alle hatten weggeschaut. Einige Male hatte er sinnlose Befehle gegeben und gemerkt, dass ihre Sinnlosigkeit allen klar war … Am 3. Juli 1941, zu Beginn seiner Rundfunkrede, war er aufgeregt gewesen, hatte Mineralwasser getrunken, und seine Aufregung hatte sich den Hörern mitgeteilt … Ende Juli hatte ihm Schukow sehr grob widersprochen, Stalin war für einen Augenblick in Verlegenheit geraten und hatte gesagt: »Machen Sie, was Sie für richtig halten.« Manchmal hätte er Lust gehabt, Rykow, Kamenew und Bucharin, die 1937 ermordet worden waren, die Verantwortung abzutreten. Sollten sie doch das Heer und das Land führen.
Zuweilen überkam ihn das entsetzliche Gefühl, dass auf den Schlachtfeldern nicht nur seine heutigen Feinde dabei waren, zu siegen. Er sah im Geiste vor sich, wie hinter Hitlers Panzern, in Staub und Qualm, all diejenigen schritten, die er vermeintlich für alle Zeiten unterworfen, bestraft und zur Ruhe gebracht hatte. Sie krochen aus der Tundra, durchstießen den Dauerfrostboden, unter dem sie lagen, zerfetzten den Stacheldraht. Transportzüge, gefüllt mit Auferstandenen, trafen aus Kolyma und der Republik Komi ein. Frauen und Kinder aus den Dörfern stiegen mit schrecklichen, vergrämten, gequälten Gesichtern aus der Erde, kamen immer näher auf ihn zu, suchten ihn mit ihren arglosen, traurigen Augen. Er wusste wie kein anderer, dass nicht nur die Geschichte über die Besiegten richtet.
Berija war ihm für Minuten unerträglich, weil er offenbar seine Gedanken durchschaute.
Doch diese ungute Schwäche hielt nicht lange an, nur wenige Tage, und alle diese Schreckensvisionen brachen auch nur in manchen Augenblicken hervor. Aber das Gefühl der Niedergeschlagenheit verließ ihn nicht, Sodbrennen, Nackenschmerzen und Schwindelanfälle machten ihm zu schaffen.
Er sah wieder zum Telefon. Es war Zeit für Jeremenko, über die Panzerbewegungen Meldung zu machen.
Die Stunde seiner Macht hatte geschlagen. In diesen Minuten entschied sich das Schicksal des von Lenin gegründeten Staates; die Partei mit ihrer zentralisierten Vernunft und Stärke erhielt die Möglichkeit, sich im Bau von riesigen Fabriken, Atomkraftwerken, Düsen- und Turboflugzeugen, kosmischen und interkontinentalen Raketen, Hochhäusern, Wissenschaftspalästen, neuen Kanälen und Seen, Autobahnen und Städten jenseits des Polarkreises zu verwirklichen.
Es entschied sich auch das Schicksal der von Hitler besetzten Länder Frankreich und Belgien, Italien, Skandinavien und der Balkanstaaten; jetzt wurde das Todesurteil über Auschwitz, Buchenwald und die Folterhöhlen von Moabit gesprochen, jetzt entschied sich, ob die Tore der neunhundert von den Nazis eingerichteten Konzentrations- und Arbeitslager geöffnet werden sollten.
Es entschied sich das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen, die nach Sibirien marschieren würden, und das der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Hitler’schen Lagern, die gemäß Stalins Willen nach ihrer Befreiung das sibirische Schicksal der deutschen Gefangenen teilen sollten.
Es entschied sich das Schicksal der Kalmücken und Krimtataren, der Balkaren und Tschetschenen, die auf Stalins Geheiß nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden waren und das Recht verloren hatten, ihren Kindern die eigene Sprache beizubringen und sich an ihre eigene Geschichte zu erinnern. Es entschied sich das Schicksal des Schauspielers Michoëls und seines Freundes Suskin, der Schriftsteller Bergeisen, Markisch, Fefer, Kwitko und Nussinow, deren Hinrichtung dem unheilvollen Prozess gegen die jüdischen Ärzte, mit Professor Wowsi als Galionsfigur, vorangehen sollte. Es entschied sich das Schicksal der von der Sowjetarmee geretteten Juden, gegen die Stalin am zehnten Jahrestag des Volkssieges von Stalingrad das Hitler entrissene Vernichtungsschwert führen würde.
Es entschied sich das Schicksal Polens, Ungarns, der Tschechoslowakei und Rumäniens.
Es entschied sich das Schicksal der russischen Arbeiter und Bauern, der Freiheit des russischen Denkens, der russischen Literatur und Wissenschaft.
Stalin war aufgeregt. In dieser Stunde wurde die zukünftige Macht des Staates mit seinem Willen eins.
Seine Größe, sein Genie existierten nicht durch ihn selbst, unabhängig von der Macht des Staates und der Streitkräfte. Seine Bücher, seine wissenschaftlichen Schriften,
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