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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Bitte, nehmen Sie von diesem Dokument Kenntnis.«
    15
    Just in dem Augenblick, als Wassilewski Stalin über das Hochfrequenztelefon von der Einschließung der deutschen Armeen bei Stalingrad berichtete, stand neben diesem sein Sekretär Poskrebyschew. Ohne Poskrebyschew anzuschauen, saß Stalin eine Weile mit halbgeschlossenen Augen da, als schlafe er. Poskrebyschew hielt den Atem an und rührte sich nicht.
    Dies war die Stunde seines Triumphs nicht nur über den lebenden Feind. Es war auch die Stunde seines Sieges über die Vergangenheit. Noch dichter würde das Gras über den Dorfgräbern des Jahres 1930 wachsen. Das Eis, die Schneehügel am Polarkreis würden ruhig und stumm bleiben.
    Er wusste besser als jeder andere auf der Welt, dass über einen Sieger nicht gerichtet wurde.
    Stalin wünschte sich seine Kinder und seine Enkelin, die Tochter des unglücklichen Jakow, herbei. Ruhig und zufrieden würde er den Kopf der Enkelin streicheln, ohne einen Blick auf die Welt, die sich vor seiner Hütte ausbreitete. Die geliebte Tochter, die stille, kränkelnde Enkelin, Erinnerungen aus der Kindheit, der schattige Garten, das ferne Rauschen des Flusses. Alles andere interessierte ihn nicht. Seine überragende Stärke hing schließlich nicht von großen Divisionen und der Macht des Staates ab.
    Langsam, ohne die Augen zu öffnen, sagte er mit besonders sanfter, kehliger Stimme: »Ach, Vögelchen, du bist uns ins Netz gegangen und entkommst uns nimmermehr.«
    Poskrebyschew betrachtete Stalins grauen, kahl werdenden Kopf, sein pockennarbiges Gesicht mit den geschlossenen Augen und spürte plötzlich, wie seine Finger kalt wurden.
    16
    Die erfolgreiche Offensive bei Stalingrad schloss viele Lücken in der sowjetischen Verteidigungslinie – nicht nur im riesigen Bereich der Stalingrader und der Don-Front, nicht nur zwischen der Armee Tschuikows und den im Norden stationierten sowjetischen Divisionen, nicht nur zwischen den vom Hinterland abgeschnittenen Kompanien und Zügen und nicht nur zwischen den in einzelnen Häusern verschanzten Abteilungen und Kampfgruppen. Sie verdrängte auch aus dem Bewusstsein der Menschen das Gefühl, abgeschnitten, halb oder gar ganz eingekesselt zu sein, und ersetzte es durch das Gefühl, ein in seiner Vielheit einheitliches Ganzes zu bilden. Und dieses Bewusstsein des Einsseins von Mensch und Kriegsmaschinerie ist das, was man als Siegesgewissheit der Truppen bezeichnet.
    Und natürlich begann in den Köpfen und Herzen der deutschen Soldaten, die in den Stalingrader Kessel geraten waren, genau der entgegengesetzte Prozess. Ein riesiger lebendiger Klumpen aus Hunderttausenden von denkenden und fühlenden Zellen war vom Organismus der deutschen Streitkräfte abgetrennt worden. Die Vergänglichkeit der Funkwellen und die noch vergänglicheren Beteuerungen der Propaganda, das Band zu Deutschland halte ewig, bekräftigten die Tatsache, dass die Stalingrader Paulus-Armee eingekesselt war.
    Der einst von Tolstoi geäußerte Gedanke, dass die vollständige Einkesselung einer Armee unmöglich sei, beruhte auf den militärischen Erfahrungen seiner Zeit.
    Der Krieg von 1941 bis 1945 bewies, dass man eine Armee einkesseln, an den Boden ketten und wie ein Fass mit einem Eisenreifen umspannen kann. Die Einkesslung wurde in diesem Krieg für viele sowjetische und deutsche Armeen zur gnadenlosen Realität.
    Tolstois Gedanke traf für seine Zeit zweifellos zu, aber wie die meisten Gedanken über die Politik oder den Krieg aus dem Mund großer Männer hatte er keine ewige Gültigkeit.
    Die Einkesselung wurde im Krieg von 1941 bis 1945 zur Realität, weil sich die Streitkräfte überaus wendig bewegten, das Hinterland aber als schwerfälliges Massiv diese Beweglichkeit erst ermöglichte. Die einschließenden Truppen nutzten alle Vorteile der Beweglichkeit. Die eingeschlossenen Verbände aber verloren ihre Beweglichkeit, da es im Kessel unmöglich war, die vielschichtige, umfangreiche, fabrikartige Etappe einer modernen Armee zu organisieren. Die Eingekesselten waren gelähmt. Die Einkesselnden benutzten Flügel und Motoren.
    Eine eingekesselte Armee, die die Bewegungsfreiheit verliert, büßt nicht nur ihre militärisch-technischen Vorteile ein. Die Soldaten und Offiziere der eingeschlossenen Armeen werden gleichsam aus der Welt der modernen Zivilisation in die Welt der Vergangenheit gestoßen. Die Soldaten und Offiziere der eingekesselten Armeen überschätzen nicht nur die Stärke der kämpfenden Truppen und

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