Leben und Schicksal
und dem Weltschicksal. Die russischen Panzer hatten ihn zu den Menschen zurückgeworfen.
Die Einsamkeit, die anfangs so beruhigend auf ihn gewirkt hatte, wurde plötzlich zum Schrecken. Allein, ohne Leibwächter und Adjutanten, kam er sich vor wie der Junge im Märchen, der den finsteren Zauberwald betreten hat.
So schritt der Däumling dahin, so verirrte sich das Geißlein im Wald, ohne zu ahnen, dass es vom Wolf belauert wurde. Und aus der humusschwarzen Dunkelheit der vergangenen Jahrzehnte tauchte seine Kinderangst auf, die Erinnerung an ein Bild aus einem Buch: Das Geißlein steht auf einer sonnigen Lichtung, doch zwischen den nassen, dunklen Baumstämmen leuchten die roten Augen und weißen Zähne des Wolfs hervor.
Am liebsten hätte er jetzt wie in seiner Kindheit aufgeschrien, nach der Mutter gerufen, die Augen geschlossen und wäre weggelaufen.
Im Wald, zwischen den Bäumen, verbarg sich seine Leibgarde. Tausende von starken, durchtrainierten, schnell reagierenden Männern. Ihre Lebensaufgabe war es, zu verhindern, dass ein fremder Atem auch nur ein Haar auf seinem Kopf krümmte, ihn nur streifte. Kaum hörbar summten die Telefone und meldeten nach Sektoren und Zonen jede Bewegung des Führers, der beschlossen hatte, einen einsamen Waldspaziergang zu machen.
Er kehrte um, unterdrückte den Wunsch, zu rennen, und ging in Richtung der dunkelgrünen Bauten seines Feldhauptquartiers.
Die Wachposten sahen, dass der Führer es plötzlich eilig hatte. Wahrscheinlich verlangten dringende Angelegenheiten seine Anwesenheit im Stab. Wie hätten sie denn ahnen sollen, dass sich der Führer Deutschlands in den ersten Minuten, da er das Waldesdunkel betreten hatte, an den Wolf aus dem Kindermärchen erinnert hatte?
Hinter den Bäumen leuchteten die Fenster der Stabsgebäude … Zum ersten Mal löste der Gedanke an das Feuer in den Lageröfen menschliches Entsetzen in ihm aus.
18
Ein äußerst seltsames Gefühl hatte die Männer in den Unterständen und im Befehlsstand der 62. Armee ergriffen: Sie hatten den Wunsch, sich ans Gesicht zu fassen, ihre Kleidung zu betasten, die Zehen in den Stiefeln zu bewegen. Die Deutschen schossen nicht mehr. Es war still geworden.
Diese Stille rief ein Schwindelgefühl hervor. Die Männer kamen sich ausgehöhlt vor, das Herz schien langsamer zu schlagen. Arme und Beine schienen sich anders zu bewegen. Seltsam, unglaublich war es, in dieser Stille seinen Brei zu essen, einen Brief zu schreiben, nachts aufzuwachen. Die Stille donnerte auf ihre Weise, eben still. Die Stille gebar vielerlei Laute, die sonderbar und neu wirkten: das Klirren eines Messers, das Rascheln einer Buchseite, das Knarren einer Diele, das Schlurfen nackter Füße, das Kratzen einer Schreibfeder, das Klicken einer Pistolensicherung oder das Ticken der Pendeluhr an der Wand des Unterstandes.
Der Generalstabschef Krylow kam in den Unterstand des Oberbefehlshabers. Tschuikow saß auf einer Pritsche, ihm gegenüber am Tisch saß Gurow. Krylow wollte sofort von der letzten Neuigkeit berichten – die Stalingrader Front sei zur Offensive übergegangen; wie die Einkesselung der Paulus-Armee vonstattengehe, werde sich in den nächsten Stunden entscheiden. Er betrachtete Tschuikow und Gurow und setzte sich ebenfalls schweigend auf eine Pritsche. Krylow musste in den Gesichtern seiner Kameraden etwas sehr Wichtiges gelesen haben, das ihn zwang, seine Neuigkeit nicht mit ihnen zu teilen, obwohl sie von solcher Bedeutung war.
Die drei Männer schwiegen. Die Stille erzeugte neue, in Stalingrad bisher übertönte Laute. Die Stille war dabei, neue Gedanken, Leidenschaften und Sorgen hervorzubringen, die in den Kampftagen unnötig gewesen waren.
Aber in diesen Minuten kannten sie noch keine neuen Gedanken – Aufregung, Ehrgeiz, Beleidigung und Neid waren nach der erdrückenden Not von Stalingrad noch nicht wiedererstanden. Sie dachten auch nicht daran, dass ihre Namen nun für immer auf einem Ruhmesblatt in der Militärgeschichte Russlands verzeichnet wären. Diese Minuten der Stille waren die schönsten in ihrem Leben. Es waren Minuten, in denen allein menschliche Gefühle zählten, und keiner konnte sich später selbst die Frage beantworten, warum sie von solchem Glück und solcher Trauer, solcher Liebe und Demut erfüllt gewesen waren.
Soll man weiter von den Stalingrader Generälen erzählen, nachdem die Verteidigung der Stadt an der Wolga vorbei war? Von den jämmerlichen Leidenschaften, die einige Führer dieser
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