Leben und Schicksal
die Perspektiven des Krieges, sondern auch die Politik ihres Staates, das Charisma ihrer Parteiführer, ihre Gesetzbücher, ihre Verfassung, ihren nationalen Charakter, die Zukunft und die Vergangenheit ihres Volkes.
Und genauso lassen sich jene zu derartigen Überschätzungen – natürlich mit umgekehrtem Vorzeichen – verleiten, die, wie ein Adler, der die Kraft seiner Flügel genießt, über dem zappelnden, hilflosen Opfer kreisen.
Die Stalingrader Einkesselung der Paulus-Armee war die Wende im Kriegsverlauf.
Der Stalingrader Triumph bestimmte den Ausgang des Krieges, aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, hing seine Freiheit ab.
17
An der Grenze zwischen Ostpreußen und Litauen, im herbstlichen Wald bei Görlitz, nieselte es. Ein Mann von mittlerer Statur, im grauen Mantel, schritt zwischen den hohen Bäumen auf einem Pfad dahin. Die Wachposten, die Hitler erblickten, hielten den Atem an, erstarrten, und die Regentropfen liefen langsam an ihren Gesichtern hinab.
Er wollte frische Luft schöpfen, allein sein. Die feuchte Luft war erfrischend. Der kalte Nieselregen tat gut. Was für schöne schweigsame Bäume, und wie angenehm ging es sich auf dem weichen Laub.
Die Männer im Feldhauptquartier hatten ihn den ganzen Tag unerträglich gereizt … Von Stalin hatte er nie viel gehalten. Alles, was Stalin vor dem Krieg getan hatte, war ihm dumm und ungehobelt vorgekommen. Seine Gerissenheit, seine Treuebrüche – das war Bauernschlauheit. Sein Staat war absurd. Churchill würde irgendwann die tragische Rolle des neuen Deutschland verstehen – es hatte Europa mit dem eigenen Leib vor dem asiatischen Bolschewismus Stalins geschützt. Er stellte sich all diejenigen vor, die für den Abzug der 6. Armee aus Stalingrad eingetreten waren – sie würden besonders zurückhaltend und ehrerbietig sein. Ihn ärgerten jene, die ihm blind vertrauten – sie würden ihm wortreich ihre Ergebenheit versichern. Ständig versuchte er, verächtlich über Stalin zu denken, ihn zu erniedrigen, und er spürte, dass dieser Wunsch dem Verlust seines Überlegenheitsgefühls entsprang … Dieser böse und rachsüchtige kaukasische Krämer. Sein heutiger Erfolg änderte ja nichts … Oder war da doch ein geheimer Spott in den Augen des alten Schlachtrosses Zeitzier gewesen? Ihn ärgerte auch der Gedanke, dass Goebbels ihm von den Witzen des englischen Premiers über seine, Hitlers, Kriegskünste erzählen würde. Goebbels würde lachend sagen: »Gib zu, er ist doch scharfsinnig«, und in der Tiefe seiner schönen, klugen Augen würde für einen Moment der Triumph des Eifersüchtigen aufleuchten, den Hitler für immer gebannt gewähnt hatte.
Die Schwierigkeiten mit der 6. Armee lenkten ihn ab, hinderten ihn, er selbst zu sein. Nicht der Verlust Stalingrads und die Einkesselung der Divisionen waren das größte Unglück, auch nicht, dass Stalin ihn übertölpelt hatte. Das würde er alles wieder ins Lot bringen …
Normale Gedanken, angenehme Schwächen hatte er immer gekannt. Als er groß und allmächtig geworden war, konnte er mit seiner Art die Menschen bewegen und begeistern. Er verkörperte den nationalen Höhenflug der Deutschen. Aber sobald die Macht Großdeutschlands und seiner Streitkräfte zu schwanken begann, verblasste seine Weisheit, verlor er seine Genialität.
Napoleon beneidete er nicht. Er verabscheute Menschen, deren Größe in Einsamkeit, Machtlosigkeit und Armut nicht unterging, die im dunklen Keller oder auf dem Dachboden ihre Kraft bewahrten.
Auf diesem einsamen Waldspaziergang konnte er die Alltagssorgen nicht verdrängen, um tief in seiner Seele die hehre, wahrhaftige Lösung zu finden, die den Handwerkern aus dem Generalstab und der Parteiführung verwehrt war. Das wiedererwachte Gefühl, mit allen anderen Menschen auf gleicher Stufe zu stehen, bereitete ihm unerträgliche Pein.
Um Schöpfer des neuen Deutschland zu werden, um den Krieg zu entfesseln, die Öfen von Auschwitz zu entfachen und die Gestapo zu schaffen, taugte kein gewöhnlicher Mensch. Der Schöpfer und Führer des neuen Deutschland musste die menschliche Gemeinschaft hinter sich lassen. Seine Gefühle, seine Gedanken, sein Alltag konnten nur über den Menschen, außerhalb der Menschen existieren.
Die russischen Panzer zwangen ihn an seinen Ausgangspunkt zurück. Seine Gedanken, seine Entscheidungen, sein Neid galten heute nicht Gott
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