Leben und Schicksal
Verteidigung befielen? Wie sie ununterbrochen tranken und sich ununterbrochen über den noch nicht aufgeteilten Ruhm stritten? Wie sich der betrunkene Tschuikow auf General Rodimzew stürzte und ihn erwürgen wollte, nur weil Nikita Chruschtschow auf der Kundgebung zur Feier des Stalingrader Sieges Rodimzew umarmt und geküsst hatte, ohne Tschuikow, der neben ihm stand, auch nur eines Blickes zu würdigen?
Soll man erzählen, dass Tschuikow und sein Stab den ersten Flug von Stalingrad ins Mutterland unternahmen, um an der Feier des 25-jährigen Bestehens der Tscheka-OGPU teilzunehmen? Oder wie Tschuikow und seine Begleiter, sternhagelvoll, nach dieser Feier in den Eislöchern der Wolga fast ertrunken wären und von Soldaten aus dem Wasser gefischt werden mussten? Soll man von den Beschimpfungen, den Verdächtigungen, dem Neid, den Vorwürfen berichten?
Es gibt nur eine Wahrheit. Zwei Wahrheiten gibt es nicht. Es ist schwer, ohne Wahrheit zu leben oder nur mit einem Splitter, einem Teilchen, mit beschnittener oder frisierter Wahrheit. Ein Teil der Wahrheit ist keine Wahrheit. Möge in dieser wunderbaren stillen Nacht die ungeteilte Wahrheit rückhaltlos die Seele erfüllen. Wir wollen den Männern in dieser Nacht ihre guten Seiten und ihren harten Einsatz hoch anrechnen.
Tschuikow verließ den Unterstand und stieg langsam die steile Wolgaböschung hinauf. Hölzerne Stufen knarrten unter seinen Füßen. Es war dunkel. West und Ost schwiegen. Die Schattenrisse der Werksgebäude, die Trümmer der Stadthäuser, die Schützengräben, die Unterstände wurden mit der ruhigen, schweigenden Dunkelheit eins – der Dunkelheit der Erde, des Himmels und der Wolga.
So drückte sich der Volkssieg aus. Nicht im feierlichen Defilee der Truppen zur geschmetterten Marschmusik einer großen Blaskapelle, nicht in Feuerwerken und Artilleriesalven, sondern in der feuchten, nächtlichen, ländlichen Ruhe, die alles, die Erde, die Stadt und die Wolga, umfangen hielt. Tschuikow war aufgeregt, laut klopfte sein vom Krieg verhärtetes Herz. Er lauschte: Die Stille war vorbei. Von der Banny-Schlucht und dem Werk »Roter Oktober« tönte Gesang herüber. Und von der Wolga herauf hörte er gedämpfte Stimmen und Gitarrenklänge.
Tschuikow kehrte in den Unterstand zurück. Gurow, der mit dem Abendbrot auf ihn gewartet hatte, sagte: »Wassili Iwanowitsch, es ist zum Verrücktwerden: so still …«
Tschuikow schnaufte und antwortete nicht.
Dann, als sie sich an den Tisch gesetzt hatten, sagte Gurow: »Ach, Genosse, du musst viel Unglück erlebt haben, wenn dich ein lustiges Lied zum Weinen bringt.«
Tschuikow warf Gurow einen schnellen, verwunderten Blick zu.
19
In einem Erdbunker, eingelassen in den Abhang der Stalingrader Schlucht, saßen Rotarmisten beim schwachen Licht einer selbstgebastelten Öllampe an einem selbstgezimmerten Tisch.
Ein Feldwebel goss Wodka in die Becher, und die Männer beobachteten, wie die kostbare Flüssigkeit langsam bis zum knorrigen Fingernagel des Feldwebels aufstieg, der das zugemessene Quantum in dem trüben Wasserglas markierte.
Alle tranken aus und griffen nach dem Brot. Einer sagte kauend: »Ja, er hat uns ganz schön zu schaffen gemacht, aber wir sind trotzdem mit ihm fertig geworden.«
»Der Fritz ist jetzt ruhig, tobt nicht mehr.«
»Hat sich ausgetobt.«
»Das Stalingrader Theater ist vorbei.«
»Und doch hat er viel angerichtet, halb Russland ist niedergebrannt.«
Sie kauten lange, ohne Eile, spürten in ihrer Gemächlichkeit Glück und Ruhe von Menschen, die sich erholen, die nach einer langen, schweren Arbeit essen und trinken.
Die Sinne benebelten sich, aber es war ein besonderer Nebel, der nichts verschleierte. Der Geschmack des Brotes und das Knistern der Zwiebelhäute, die Waffen, die an der Lehmwand lagen, die Gedanken an zu Hause und an die Wolga und der Sieg über den mächtigen Feind, mit eigenen Händen errungen – diesen Händen, die Kinderhaar gestreichelt, Frauen berührt, Brot verteilt und Tabak in Zeitungspapier gedreht hatten. Alle diese Empfindungen waren jetzt so klar und intensiv wie noch nie.
20
Die evakuierten Moskauer, die sich auf die Heimreise vorbereiteten, freuten sich vielleicht mehr über das Ende des Exillebens als auf das Wiedersehen mit Moskau. Die Straßen und Häuser in Swerdlowsk, Omsk, Taschkent, Krasnojarsk, die Sterne am Herbsthimmel, der Geschmack des Brotes – alles widerte sie an.
Wenn sie gute Nachrichten des Informationsbüros lasen, sagten sie:
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