Leben und Schicksal
des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen geführt: die Kollektivierung, die Industrialisierung und das Jahr 1937. Diese Ereignisse hatten – ebenso wie die Oktoberrevolution im Jahre 1917 – gewaltige soziale Verschiebungen zur Folge und wurden von Massenvernichtungen eigener Staatsbürger begleitet, größer und umfangreicher als seinerzeit die Liquidierung des russischen Adels, des russischen Wirtschafts- und Handelsbürgertums.
In diesen Ereignissen, die Stalin zu verantworten hatte, manifestierte sich der Triumph der Erbauer des neuen Sowjetstaates, der Triumph des Sozialismus in einem Land. Sie waren die logische Folge der Oktoberrevolution.
Aber das neue System, entstanden in der Zeit der Kollektivierung und Industrialisierung und des nahezu vollständigen Austauschs der Führungskader, wollte sich von den alten ideologischen Formeln und Vorstellungen nicht lösen, obwohl diese ihre Bedeutung, ihren Inhalt verloren hatten. Das neue System benutzte die alten Formeln und alten Losungen, die ihren Ursprung noch in der vorrevolutionären Zeit hatten, als der bolschewistische Flügel der russischen Sozialdemokratischen Partei entstanden war. Zur Grundlage dieses neuen Systems wurde indes sein nationalstaatlicher Charakter.
Der Krieg beschleunigte den Prozess der neuen Einschätzung der Realität, der unterschwellig schon vor dem Krieg eingesetzt hatte, beschleunigte das Aufkeimen des Nationalbewusstseins – das Wort »russisch« bekam wieder einen lebendigen Inhalt.
Anfangs, in der Zeit des Rückzugs, verband man dieses Wort zumeist mit negativen Attributen: russische Rückständigkeit, russisches Durcheinander, unbefahrbare russische Straßen, russische Schlamperei … Aber das erstarkte Nationalbewusstsein wartete nur auf die Tage des militärischen Erfolges.
Auch der Staat ging mit neuen Kategorien an sein Selbstverständnis heran.
Das Nationalbewusstsein bricht als gewaltige, positive Kraft in Zeiten hervor, da ein Volk höchster Not ausgesetzt ist. Das Nationalbewusstsein des Volkes ist in solchen Notzeiten deshalb so positiv, weil es menschlich, und nicht, weil es national ist. Es sind die menschliche Würde, die menschliche Freiheitsliebe, der menschliche Glaube an das Gute, die im Nationalbewusstsein ihren Ausdruck finden.
Aber das in den Jahren des Unglücks erwachte Nationalbewusstsein kann sich vielfältig entwickeln.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass sich dieses Nationalbewusstsein beim Leiter der Kaderabteilung, der das Kollektiv einer Institution vor Kosmopoliten und bourgeoisen Nationalisten beschützt, anders äußert als bei einem Rotarmisten, der Stalingrad verteidigt.
Der sowjetische Staat machte sich das Erwachen des Nationalbewusstseins für Aufgaben zunutze, die sich ihm nach dem Krieg stellten: für seinen Kampf um die Idee der nationalen Souveränität und zur Bestätigung des Sowjetischen, des Russischen in allen Bereichen des Lebens. Alle diese Aufgaben standen jedoch auch schon vor dem Krieg an, als die Kollektivierung der Landwirtschaft, der Aufbau der sowjetischen Schwerindustrie und der Einsatz neuer Spitzenfunktionäre dem neuen System zum Triumph verhalfen, das Stalin als »Sozialismus in einem Land« definiert hatte.
Die Muttermale der russischen Sozialdemokratie wurden wegoperiert, entfernt.
Und just in der Zeit des Stalingrader Umbruchs, als die Flammen der brennenden Stadt das einzige Freiheitssignal im Reich der Finsternis waren, trat dieser Prozess des Umdenkens offen zutage.
Die Logik der Entwicklung führte dazu, dass der Volkskrieg, der während der Verteidigung Stalingrads sein höchstes Pathos erreicht hatte, eben während dieser Periode Stalin die Möglichkeit gab, die Ideologie des Staatsnationalismus offen zu deklarieren.
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In der Eingangshalle des Instituts hing eine Wandzeitung aus, darin war ein Artikel mit der Überschrift »Immer mit dem Volke« erschienen.
In dem Artikel stand, dass in der Sowjetunion, die vom großen Stalin durch alle Kriegsstürme geführt wurde, der Wissenschaft gewaltige Bedeutung zugemessen werde, dass Partei und Regierung den Wissenschaftlern Ehre und Achtung entgegenbrächten wie nirgends sonst auf der Welt und dass der Staat selbst in der schweren Kriegszeit alle Bedingungen für eine normale und fruchtbare Arbeit der Gelehrten schaffe.
Des Weiteren war von den riesigen Aufgaben die Rede, die sich dem Institut stellten, vom Neubau und von der Erweiterung der alten Labors, von der Verbindung zwischen
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