Leben und Schicksal
nächste Frage schon kannte, fügte sie hinzu: »Noch kein Brief von Madjarow.«
»Da siehst du mal, wer früher jeden Tag anrief, ruft jetzt ab und zu an, und wer früher ab und zu anrief, der tut es jetzt gar nicht mehr.«
Er hatte das Gefühl, dass man sich ihm gegenüber auch zu Hause anders verhielt. Einmal ging Nadja am Vater, der Tee trank, grußlos vorbei.
Strum schrie sie an: »Warum grüßt du nicht? Bin ich für dich ein seelenloser Gegenstand?«
Sein Gesicht sah dabei so leidensvoll und jämmerlich aus, dass Nadja seinen Zustand erkannte, sich eine patzige Antwort verkniff und hastig sagte: »Verzeih mir, lieber Papa.«
Am selben Tag fragte er sie: »Hör mal, Nadja, triffst du dich noch immer mit deinem Feldherrn?«
Sie zuckte schweigend die Achseln.
»Ich möchte dich warnen«, fuhr er fort. »Vermeide Gespräche über politische Themen mit ihm. Es hätte mir gerade noch gefehlt, dass sie mir auch von dieser Seite auf den Pelz rücken.«
Und Nadja antwortete wieder verständnisvoll: »Da kannst du ganz beruhigt sein, Papa.«
Morgens, wenn er sich dem Institut näherte, begann Strum, sich umzusehen, und beschleunigte oder verlangsamte seinen Schritt. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Gang leer war, ging er ihn schnell, mit gesenktem Kopf entlang, und wenn sich irgendwo eine Tür öffnete, stockte ihm das Herz. Hatte er endlich das Labor erreicht, keuchte er wie ein Soldat, der unter feindlichem Beschuss über ein Feld zu seinem Schützengraben gerannt ist.
Eines Tages kam Sawostjanow in Strums Arbeitszimmer und sagte: »Viktor Pawlowitsch, ich bitte Sie, wir alle bitten Sie, schreiben Sie doch einen Reuebrief. Ich versichere Ihnen, das hilft. Überlegen Sie doch – zu einer Zeit, da vor Ihnen eine gewaltige, ja, eine großartige Arbeit liegt, da alle lebendigen Kräfte unserer Wissenschaft auf Sie hoffen, dürfen Sie doch nicht alles einfach so hinwerfen. Schreiben Sie einen Brief, gestehen Sie Ihre Fehler.«
»Was soll ich denn bereuen, was sind meine Fehler?«, fragte Strum.
»Ach, ist das denn nicht egal? Alle tun es doch – in der Literatur, in der Wissenschaft, auch die Parteiführer, und in Ihrer geliebten Musik gesteht Schostakowitsch seine Fehler, schreibt Reuebriefe und setzt danach seine Arbeit fort, als wäre nichts geschehen.«
»Was soll ich denn bereuen und vor wem?«
»Schreiben Sie an die Institutsleitung, an das ZK. Wohin, ist im Grunde genommen egal! Wichtig ist nur, dass Sie bereuen. Etwa so: ›Ich gestehe meine Schuld ein, ich habe die Dinge verzerrt, verspreche, mich zu bessern, ich habe alles eingesehen.‹ In dieser Art, Sie wissen schon, es gibt Schablonen. Und vor allem – das hilft, hilft immer!«
Sawostjanows sonst fröhliche, lachende Augen waren ernst. Selbst ihre Farbe schien sich verändert zu haben.
»Danke, danke, mein Lieber«, sagte Strum, »Ihre Freundschaft rührt mich.«
Eine Stunde später sprach Sokolow ihn an: »Viktor Pawlowitsch, in der nächsten Woche tagt der erweiterte Wissenschaftsrat. Ich meine, Sie sollten da sprechen.«
»Und aus welchem Anlass?«, sagte Strum.
»Ich glaube, Sie sollten Erklärungen abgeben, Ihre Fehler bereuen.«
Strum schritt im Zimmer auf und ab, blieb plötzlich am Fenster stehen, blickte auf den Hof und sagte: »Pjotr Lawrentjewitsch, vielleicht sollte ich doch lieber einen Brief schreiben? Das ist leichter, als sich in der Öffentlichkeit selbst ins Gesicht zu spucken.«
»Nein, ich meine, Sie sollten sprechen. Ich war gestern bei Swetschin, und der gab mir zu verstehen, dass dort« – Sokolow deutete vage auf die obere Kante des Türstocks – »gewünscht wird, dass Sie sprechen und keinen Brief schreiben.«
Strum drehte sich schroff zu ihm um.
»Ich werde weder sprechen noch einen Brief schreiben.«
Im geduldigen Tonfall eines Psychiaters, der sich mit einem Kranken unterhält, sagte Sokolow: »Viktor Pawlowitsch, Schweigen wäre in Ihrer Lage vorsätzlicher Selbstmord. Ihnen werden schwere politische Vorwürfe zur Last gelegt.«
»Wissen Sie, was mich besonders quält?«, entgegnete Strum. »Warum passiert mir das alles in den Tagen der allgemeinen Freude, in den Tagen des Sieges? Und wie kann irgendein Hurensohn sagen, dass ich offen die Grundlagen des Leninismus untergrabe und glaube, dass es mit der Sowjetmacht zu Ende geht? In dem Sinne: Strum prügelt gern auf Schwache ein.«
»Diese Meinung habe ich auch schon gehört«, sagte Sokolow.
»Nein, nein, die sollen sich zum Teufel
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