Leben und Schicksal
er das Missverhältnis zwischen dem Gewicht seines zerbrechlichen menschlichen Körpers und dem des riesigen Staatskolosses. Er hatte das Gefühl, der Staat starrte sein Gesicht mit übergroßen hellen Augen an, um ihn im nächsten Augenblick zu überrollen – ein Knacken, ein Piepsen, ein Winseln, und er wäre für immer verschwunden.
Die Straße war voll von Menschen, aber Strum kam es so vor, als liege ein Streifen Niemandsland zwischen ihm und den anderen Passanten.
Im Trolleybus sagte ein Mann in einer warmen Soldatenmütze aufgeregt zu seinem Begleiter: »Hast du schon die letzten Nachrichten gehört?«
Von den vorderen Plätzen rief jemand herüber: »Stalingrad! Der Deutsche hat sich verschluckt!«
Eine ältere Frau schaute Strum an, als missbillige sie sein Schweigen. Milde gestimmt dachte er an Sokolow: »Alle Menschen haben ihre Fehler, er wie ich.«
Da aber der Gedanke, die gleichen Schwächen und Fehler wie andere Menschen zu haben, niemals vollkommen aufrichtig ist, dachte er darauf sofort: »Seine Ansichten sind davon abhängig, ob er vom Staat geliebt wird, ob sein Leben erfolgreich ist. Wenn es Frühling wird und es nach Sieg aussieht, dann sagt er kein kritisches Wort. Bei mir gibt es so etwas nicht: Ob der Staat mir böse ist, ob er mich prügelt oder streichelt – meine Beziehung zu ihm ändert sich nicht.«
Zu Hause würde er Ljudmila Nikolajewna von dem Artikel erzählen. Offenbar wollte man ihm jetzt ernsthaft zu Leibe rücken. Er würde ihr sagen: »Da hast du den Stalin-Preis, Ljudotschka. Solche Artikel werden geschrieben, wenn man einen einsperren will.«
»Wir haben ein gemeinsames Schicksal«, dachte er. »Wenn ich zu einer Vorlesungsreihe an die Sorbonne eingeladen würde, dann würde sie mitfahren; wenn man mich aber in ein Lager nach Kolyma schicken sollte, dann würde sie mir auch dorthin folgen.«
»Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt«, würde Ljudmila Nikolajewna sagen.
Er würde ihr schroff widersprechen: »Ich brauche keine Kritik, sondern Mitgefühl. Kritik habe ich im Institut genug.«
Nadja öffnete ihm die Tür.
Sie umarmte ihn im Halbdunkel des Flurs, presste die Wange an seine Brust.
»Ich friere, bin nass, lass mich den Mantel ausziehen. Was ist passiert?«, fragte er.
»Hast du es denn nicht gehört? Stalingrad! Ein gewaltiger Sieg. Die Deutschen sind eingekesselt. Komm, komm schnell!«
Sie half ihm aus dem Mantel und zog ihn an der Hand ins Zimmer.
»Hierher, Mama ist in Toljas Zimmer.«
Sie öffnete die Tür. Ljudmila Nikolajewna saß an Toljas Tisch. Langsam drehte sie ihm den Kopf zu, lächelte ihn feierlich und traurig an.
An diesem Abend erzählte Strum seiner Frau nichts von dem, was im Institut vorgefallen war.
Sie saßen an Toljas Tisch, und Ljudmila Nikolajewna zeichnete auf ein Blatt Papier das Schema der Einkesselung in Stalingrad, erklärte Nadja ihren eigenen Plan weiterer militärischer Operationen.
Nachts, in seinem Zimmer, dachte Strum: »Mein Gott, vielleicht sollte ich Selbstkritik üben, in solchen Situationen schreiben sie doch alle Reuebriefe.«
22
Nach der Veröffentlichung des Artikels in der Wandzeitung vergingen einige Tage. Die Arbeit im Labor ging wie gewohnt weiter. Strums Stimmung wechselte zwischen Depression und Munterkeit, er arbeitete viel, und wenn er durchs Labor ging, trommelte er die Rhythmen seiner Lieblingsmelodien mit flinken Fingern auf Fensterbretter und Metallgehäuse. Er scherzte, dass im Institut wohl eine Epidemie der Kurzsichtigkeit ausgebrochen sei, Bekannte, die mit ihm zusammenstießen, gingen gedankenversunken an ihm vorbei, ohne zu grüßen. Gurewitsch, der Strum schon aus der Ferne bemerkt hatte, wechselte auf die andere Straßenseite, setzte eine nachdenkliche Miene auf und blieb vor einer Litfaßsäule stehen. Strum, der Gurewitschs Kapriolen beobachtet hatte, drehte sich im selben Moment wie Gurewitsch um, und ihre Blicke trafen sich. Gurewitsch machte eine Geste des freudigen Erstaunens und grüßte Strum. Aber so lustig war das alles gar nicht.
Swetschin grüßte Strum zwar mit einem artigen Kratzfuß, aber sein Gesicht nahm dabei einen Ausdruck an, als habe er den Botschafter eines verfeindeten Landes vor sich.
Viktor Pawlowitsch führte Buch darüber, wer sich abwandte, wer nickte, wer ihm die Hand reichte.
Wenn er nach Hause kam, fragte er als Erstes seine Frau: »Hat jemand angerufen?«
Gewöhnlich antwortete Ljudmila: »Niemand, außer Marja Iwanowna.«
Und da sie seine
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