Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
scheren«, sagte Strum. »Ich werde nicht bereuen!«
    Doch am Abend schloss er sich zu Hause in seinem Zimmer ein und begann, den Brief zu schreiben. Schamerfüllt zerriss er den Papierbogen, fing aber sofort an, den Text seiner Rede für die Tagung des Wissenschaftsrats zu entwerfen. Als er den Text durchgelesen hatte, schlug er mit der Handfläche auf den Tisch und zerfetzte das Blatt.
    »Aus! Schluss!«, sagte er laut. »Komme, was kommen will. Sollen sie mich doch einsperren.«
    Eine Zeitlang saß er reglos da und litt unter seiner endgültigen Entscheidung. Dann kam ihm der Gedanke, dass er einen Brieftext entwerfen sollte, den er einreichen könnte, wenn er den Beschluss, zu bereuen, gefasst hätte. Daran war nichts Erniedrigendes. Niemand würde diesen Brief sehen, kein Mensch.
    Er war allein, die Tür war geschlossen, alle schliefen, kein Straßenlärm, kein Hupen, kein Autolärm.
    Aber eine unsichtbare Macht drückte ihn nieder. Er fühlte ihr hypnotisierendes Gewicht, sie zwang ihn, so zu denken, wie sie es wünschte, zwang ihn, nach ihrem Diktat zu schreiben. Sie war in ihm selbst, sie ließ sein Herz erstarren, sie löste seinen Willen auf, mischte sich in seine Beziehung zu Frau und Tochter ein, in seine Vergangenheit, in die Gedanken an seine Jugend. Er fing an, sich selbst als stupiden, langweiligen Menschen zu empfinden, als einen, der seine Umgebung mit düsterem Gerede nervt. Und sogar seine Arbeit hatte ihren Glanz verloren, war wie von Asche bedeckt, erfüllte ihn nicht mehr mit Licht und Freude.
    Nur wer noch nie eine solche Macht über sich gespürt hat, kann sich über Menschen wundern, die sich ihr unterwerfen. Wer sie an sich erfahren hat, wundert sich über andere Dinge – über die Fähigkeit, auch nur für einen Moment aufzubrausen, und sei es mit einem einzigen, zornig hervorgestoßenen Wort oder einer schnellen, zaghaften Geste des Protests.
    Strum schrieb einen Reuebrief für sich, einen Brief, den er verstecken, niemandem zeigen würde, obwohl er insgeheim wusste, dass ihm dieser Brief von Nutzen sein könnte. Sollte er einstweilen hier liegen.
    Am Morgen trank er seinen Tee und schaute auf die Uhr. Es war Zeit, ins Labor zu gehen. Ein eisiges Gefühl der Einsamkeit packte ihn. Ihm schien, als werde ihn bis zu seinem Lebensende niemand mehr besuchen. Und nicht nur aus Angst rief ihn niemand mehr an. Er bekam keinen Anruf, weil er langweilig, uninteressant und unbegabt war.
    »Auch gestern hat natürlich kein Mensch nach mir gefragt«, sagte er zu Ljudmila Nikolajewna und rezitierte: »›Ich bin allein am Fensterlein, erwarte weder Gast noch Freund …‹«
    »Ich hab vergessen, dir zu sagen, dass Tschepyschin da war, er hat auch angerufen, will dich sehen.«
    »Oh«, sagte Strum, »wie konntest du das vergessen?« Er versuchte, eine feierliche Melodie aus dem Tisch herauszutrommeln.
    Ljudmila Nikolajewna trat ans Fenster. Strum ging unten geruhsam seines Wegs, groß, gebeugt, von Zeit zu Zeit schwenkte er die Aktentasche, und sie wusste, dass er an sein Treffen mit Tschepyschin dachte, ihn in Gedanken begrüßte und mit ihm sprach.
    In diesen Tagen tat er ihr leid, sie sorgte sich um ihn, aber gleichzeitig bedachte sie auch seine Fehler, vor allem den größten: seinen Egoismus.
    Da hatte er doch rezitiert: »Ich bin allein am Fensterlein …«, und ging dann ins Labor, wo er von Menschen umgeben war, wo er seine Arbeit hatte. Am Abend würde er Tschepyschin besuchen und wahrscheinlich nicht vor zwölf heimkommen. Er würde nicht daran denken, dass sie den ganzen Tag allein war. Sie war diejenige, die allein am Fensterlein der leeren Wohnung stand und keinen Menschen um sich hatte, sie war diejenige, die weder einen Gast noch einen Freund erwartete.
    Ljudmila Nikolajewna ging in die Küche, um Geschirr zu spülen. An diesem Morgen war ihr besonders schwer ums Herz. Heute würde auch Marja Iwanowna nicht anrufen, da sie zu ihrer älteren Schwester nach Schabolowka fahren wollte.
    Auch Nadja machte ihr Sorgen; sie schwieg und setzte ihre abendlichen Spaziergänge trotz aller Verbote fort. Viktor aber war ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt und wollte nicht über Nadja nachdenken.
    Es klingelte. Wahrscheinlich war es der Zimmermann, den sie am Vortag bestellt hatte. Er sollte in Toljas Zimmer die Tür reparieren. Ljudmila Nikolajewna freute sich – ein lebender Mensch.
    Sie öffnete die Tür – im Halbdunkel des Flurs stand eine Frau in einer grauen Lammfellmütze,

Weitere Kostenlose Bücher