Leben und Schicksal
einen Koffer in der Hand.
»Genia!«, schrie Ljudmila Nikolajewna so laut und so kläglich, dass sie ihre eigene Stimme kaum erkannte. Sie küsste die Schwester, streichelte ihre Schultern und sagte: »Tolja lebt nicht mehr, er ist tot.«
23
Das heiße Wasser in der Wanne floss sehr spärlich, und kaum drehte man stärker auf, wurde das Wasser ganz kalt. Die Wanne wurde nur langsam voll, und den Schwestern schien, als hätten sie seit den ersten Minuten ihrer Begegnung kaum zwei Worte gewechselt.
Als dann die Wanne endlich voll war und Genia badete, kam Ljudmila Nikolajewna dauernd an die Tür des Badezimmers und fragte: »Na, wie ist’s, soll ich dir den Rücken schrubben? Schau nach dem Gas, es geht sonst aus …«
Einige Minuten später schlug sie mit der Faust gegen die Tür und fragte ärgerlich: »Was ist denn los? Bist du eingeschlafen?«
Genia kam im Frotteebademantel der Schwester aus dem Badezimmer.
»Ach, was für eine Hexe du bist«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
Und Jewgenia Nikolajewna fiel ein, wie auch Sofja Ossipowna sie bei der nächtlichen Ankunft Nowikows in Stalingrad eine Hexe genannt hatte.
Der Tisch war gedeckt.
»Ein sonderbares Gefühl«, sagte Jewgenia Nikolajewna. »Nach zweitägiger Fahrt in einem Eisenbahnwaggon ohne Schlafgelegenheit habe ich ein Bad genommen und müsste mich wieder ganz friedlich und wohlig fühlen, aber meine Seele …«
»Was hat dich denn nach Moskau verschlagen? Ist etwas Schlimmes passiert?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.
»Später, später.«
Sie winkte ab.
Ljudmila erzählte von Viktor Pawlowitschs Scherereien, von Nadjas unerwarteter und komischer Romanze, von Bekannten, die aufgehört hatten anzurufen oder Strum nicht einmal mehr erkannten, wenn sie ihm begegneten.
Jewgenia Nikolajewna erzählte von Spiridonows Ankunft in Kuibyschew. Er sei ein netter Mensch, aber irgendwie bedauernswert. Ihm werde keine neue Arbeitsstelle zugewiesen, bis ein Ausschuss seine Angelegenheit geprüft habe. Vera und das Kind seien in Leninsk; Stepan Fjodorowitsch weine, wenn er von seinem Enkel spreche. Dann erzählte sie von Jenny Genrichownas Verbannung und davon, wie nett der alte Schargorodski sei und wie ihr Limonow bei der polizeilichen Anmeldung geholfen habe.
Genia glaubte immer noch den Tabaksqualm zu riechen, das Rattern des Zuges und die Gespräche im Waggon zu hören; es war wirklich eigenartig, dass sie jetzt das Gesicht ihrer Schwester betrachtete, den weichen Bademantel am sauberen Körper fühlte und in diesem Zimmer mit Klavier und Teppich saß.
Und in all den traurigen und fröhlichen, lustigen und rührenden Geschichten aus der jüngsten Zeit, die sich die Schwestern erzählten, kamen ständig Freunde und Verwandte vor, die nicht mehr am Leben waren, aber für immer mit ihnen verbunden blieben. Was sie auch über Viktor Pawlowitsch zu reden hatten, der Schatten Anna Semjonownas stand hinter ihm. Hinter Serjoscha tauchten seine im Lager gestorbenen Eltern auf, und die Schritte des breitschultrigen, schüchternen Jungen mit den wulstigen Lippen hörte Ljudmila Nikolajewna Tag und Nacht neben sich. Doch über diese Schatten sprachen sie nicht.
»Von Sofja Ossipowna hört man nichts. Als wäre sie vom Erdboden verschwunden«, sagte Genia plötzlich.
»Die Lewinton?«
»Ja, ja, die.«
»Ich mochte sie nicht«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Malst du noch?«
»In Kuibyschew nicht mehr. In Stalingrad habe ich gemalt.«
»Kannst stolz sein: Vitja hat zwei von deinen Bildern in die Evakuierung mitgenommen.«
Genia lächelte: »Das ist schön.«
Ljudmila Nikolajewna sagte: »Na, Frau Generalin, warum erzählst du denn nichts über das Allerwichtigste? Bist du zufrieden? Liebst du ihn?«
Genia zog den Bademantel über der Brust zusammen und sagte: »Ja, ich bin zufrieden, glücklich. Ich liebe ihn, und er liebt mich.« Sie warf Ljudmila einen schnellen Blick zu und fuhr fort: »Weißt du, warum ich nach Moskau gekommen bin? Nikolai Grigorjewitsch ist verhaftet worden. Er sitzt in der Lubjanka.«
»Mein Gott, weshalb denn? Ein Hundertprozentiger wie er!«
»Und unser Mitja? Und dein Abartschuk? Der war doch sogar zweihundertprozentig.«
Ljudmila Nikolajewna dachte nach und sagte: »Wie grausam er war, dein Nikolai! Während der Kollektivierung hatte er kein Erbarmen mit den Bauern. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal fragte: ›Was geschieht denn dort?‹ Und er antwortete: ›Der Teufel soll sie holen, diese Kulakenbrut.‹ Auch auf Viktor
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