Leben und Schicksal
vorzieht, obdachlos in Kasan herumzuziehen.«
Kaum hatte sie die harten Worte ausgesprochen, bedauerte Genia ihre Schroffheit und fügte, um die Schwester fühlen zu lassen, dass ihr Vertrauen zueinander stärker war als zufällige Verstimmungen, hinzu: »Ich will an Nowikow glauben. Und trotzdem … Woher kannte die Staatssicherheit diese Worte? Woher kommt dieser schreckliche Nebel?«
Sie wünschte sich so sehr die Mutter herbei. Genia würde sich mit dem Kopf an ihre Schulter schmiegen und sagen: »Liebe Mama, ich bin so müde.«
Ljudmila Nikolajewna sagte: »Weißt du, wie es gewesen sein könnte? Dein General hat jemandem von eurem Gespräch erzählt, und der hat es gemeldet.«
»Ja, ja, seltsam, dass mir dieser einfache Gedanke nicht gekommen ist.«
In der Stille und Ruhe der Strum’schen Wohnung fühlte Genia stärker als zuvor die beklemmende Unruhe in ihrem Herzen …
Alles, was sie bei der Trennung von Krymow nicht zu Ende gedacht, nicht zu Ende gefühlt hatte, alles, was sie seither insgeheim gequält und verunsichert hatte – ihre noch lebendigen zärtlichen Gefühle für ihn, die Sorge um ihn, die Gewöhnung an ihn –, war in den letzten Wochen erneut aufgebrochen und wieder stärker geworden.
Sie dachte an ihn bei der Arbeit, in der Straßenbahn, beim Schlangestehen. Nacht für Nacht sah sie ihn im Traum, stöhnte, schrie auf und erwachte.
Die Träume waren qualvoll, immer Brände, Krieg, Gefahren, die auf Nikolai lauerten, und immer war es unmöglich, diese Gefahren von ihm abzuwenden.
Morgens dann, wenn sie sich hastig anzog und wusch, in steter Angst, zu spät zur Arbeit zu kommen, dachte sie weiter an ihn.
Sie hatte geglaubt, dass sie ihn nicht liebte. Aber war es möglich, so unentwegt an einen Menschen zu denken, den man nicht liebt, so qualvoll sein unglückliches Schicksal mitzuerleben? Jedes Mal, wenn sich Limonow und Schargorodski über einen seiner Lieblingsdichter oder Lieblingsmaler lustig machten – warum wünschte sie sich dann Nikolai herbei, um ihm übers Haar zu streichen und ihn ein wenig zu bedauern?
Sie dachte nun nicht mehr an seinen Fanatismus, seine Gleichgültigkeit gegenüber den Verfolgten, seinen Ingrimm, wenn er über die Kulaken während der Kollektivierung sprach.
Sie erinnerte sich jetzt nur noch an das Gute, das Romantische, Rührende, Traurige. Die Kraft, die er über sie besaß, lag nun in seiner Schwäche. Seine Augen waren die eines Kindes, sein Lächeln verlegen, seine Bewegungen ungeschickt.
Sie sah ihn ohne die Achselstücke, die man ihm heruntergerissen hatte, sie sah ihn mit einem ergrauten Bart, nachts auf einer Pritsche zusammengekauert, sah seinen Rücken während der Spazierrunden im Gefängnishof. Wahrscheinlich malte er sich aus, dass sie sein Schicksal geahnt und ihn deshalb verlassen hatte. Er lag auf einer Gefängnispritsche und dachte an sie … die Generalin …
Sie wusste nicht, was es war: Mitleid, Liebe, Gewissen, Pflicht?
Nowikow hatte ihr einen Passierschein geschickt und mit einem Freund bei der Luftwaffe ausgemacht, dass man sie mit einer »Douglas« in den Frontstab bringen würde. Ihre Vorgesetzten hatten ihr für die Reise an die Front drei Wochen Urlaub gegeben.
Sie sprach sich Trost zu: »Er wird es verstehen, ganz gewiss, denn ich konnte nicht anders.«
Sie wusste, dass sie Nowikow Schlimmes zumutete: Er wartete doch, wartete auf sie.
Sie hatte ihm schonungslos offen alles geschrieben. Erst nachdem sie den Brief abgeschickt hatte, war ihr eingefallen, dass die Militärzensur ihn lesen würde. All das konnte Nowikow ungeheuer schaden.
»Nein, nein, er wird es verstehen«, hatte sie sich zugeredet.
Doch im Grunde ging es ja gerade darum, dass Nowikow verstehen und sich ebendarum für immer von ihr trennen würde.
Liebte sie ihn? Liebte sie nur seine Liebe zu ihr? Angst und Trauer erfassten sie und ein Grauen vor dem Alleinsein, wenn sie an die Unvermeidlichkeit der endgültigen Trennung von ihm dachte.
Besonders unerträglich war ihr der Gedanke, dass sie selbst es war, die willentlich ihr Glück zerstörte.
Doch wenn sie überlegte, dass sie nun gar nichts mehr ändern und in Ordnung bringen könnte, dass es nicht von ihr, sondern von Nowikow abhing, ob sie ihn nun vollkommen und endgültig verlieren würde, dann war ihr dieser Gedanke unerträglich schwer.
Konnte sie es gar nicht mehr aushalten, an Nowikow zu denken, stellte sie sich Nikolai Grigorjewitsch vor: eine Gegenüberstellung, zu der man sie holte …
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