Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
angehört hatte, wurde nun ihre Zukunft.
    Die neue, weitläufige Eingangshalle, deren Spiegelglasfenster auf die Straße sahen, war geschlossen, der Parteienverkehr wurde in den alten Räumen abgewickelt.
    Sie bog in einen schmutzigen Hof ein und ging an einer Mauer entlang, von der der Putz bröckelte, zu der angelehnten Tür. Drinnen sah alles erstaunlich gewöhnlich aus: die üblichen Tische mit Tintenflecken, die Holzbänke an den Wänden, die Guckfenster mit den hölzernen Ablagen davor – es waren die Schalter, an denen man Auskunft bekam.
    Es schien keinen Zusammenhang zu geben zwischen diesem Kanzleizimmer und dem steinernen, vielstöckigen Mammutgebäude, das zwischen dem Lubjankaplatz, der Sretenkastraße, der Furkassowgasse und der Kleinen Lubjanka lag.
    Es war eng darin, die Bittsteller, meist Frauen, standen in Schlangen vor den Schaltern, manche saßen auf den Bänken, ein alter Mann, der eine Brille mit dicken Gläsern trug, füllte an einem der Tische irgendein Formular aus. Genia ließ ihren Blick über die alten und jungen, männlichen und weiblichen Gesichter wandern und bemerkte, dass sich bei allen im Augenausdruck und in den Mundfalten viel Gemeinsames verriet. Sie hätte, wenn sie einem dieser Menschen in der Tram oder auf der Straße begegnete, erraten können, dass er zu den Besuchern des Hauses Nummer 24 auf dem Kusnezki Most gehörte.
    Sie wandte sich an einen jungen Wachposten, der eine Rotarmistenuniform trug, aber irgendwie nicht nach Rotarmist aussah, und er fragte sie: »Zum ersten Mal?« – und wies auf ein Fensterchen in der Wand.
    Genia stellte sich an, den Pass in der Hand, ihre Hände wurden vor Aufregung feucht. Die Frau vor ihr erteilte ihr halblaut Ratschläge: »Wenn er nicht hier ist, müssen Sie zur Matrosenruhe, dann zur Butyrka, aber dort kommen nur an bestimmten Tagen bestimmte Buchstaben dran. Dann bleibt noch das Militärgefängnis von Lefortowo, dann müssen Sie wieder hierher zurück. Ich habe meinen Sohn anderthalb Monate gesucht. Waren Sie schon bei der Militärprokuratur?«
    Die Schlange vor ihr wurde rasch kürzer, Genia vermutete, dass dies ein schlechtes Zeichen war, die Antworten fielen anscheinend amtlich und einsilbig aus. Als jedoch eine ältere, elegant gekleidete Frau ans Fensterchen trat, stockte die Sache, man raunte sich leise zu, dass der Diensthabende wegen näherer Auskünfte fortgegangen sei, der Telefonanruf habe nicht genügt. Die Frau stand der Schlange halb zugewandt, und der Ausdruck ihrer zusammengekniffenen Augen schien zu besagen, dass sie nicht die Absicht hatte, sich der übrigen jämmerlichen Häftlingsanverwandtschaft gleichgestellt zu fühlen.
    Bald kam wieder Bewegung in die Schlange, und eine junge Frau sagte im Weggehen leise: »Immer dasselbe: Pakete sind nicht erlaubt.«
    Die Nachbarin erklärte es Jewgenia Nikolajewna: »Das heißt, dass die Untersuchung noch nicht zu Ende ist.«
    »Und Besuche?«, fragte Genia.
    »Wo denken Sie hin«, sagte die Frau und lächelte über Genias Einfalt.
    Niemals hatte Jewgenia Nikolajewna geglaubt, dass ein menschlicher Rücken so viel über den Zustand der Seele verraten kann. Die Menschen, die an den Schalter traten, reckten auf irgendwie besondere Weise den Hals, und ihre Rücken mit den gehobenen Schultern, mit den verkrampften Schulterblättern schienen zu schreien, zu weinen, zu schluchzen.
    Als nur noch sechs Personen Genia von dem Schalter trennten, wurde das Guckfenster geschlossen und eine zwanzigminütige Pause verkündet. Die Wartenden ließen sich auf den Bänken und Stühlen nieder.
    Es waren Ehefrauen darunter, Mütter, ein älterer Mann, Ingenieur, seine Frau saß als Dolmetscherin, die von Berufs wegen mit Ausländern zu tun hatte, eine Schülerin aus der zehnten Klasse, deren Mutter man verhaftet hatte, nachdem der Vater 1937 zu zehn Jahren ohne Recht auf Briefwechsel verurteilt worden war, eine alte blinde Frau saß wegen ihres Sohnes da, die Wohnungsnachbarin hatte sie hergeführt, eine Ausländerin, die kaum Russisch sprach – die Frau eines deutschen Kommunisten, sie trug einen karierten ausländischen Mantel, hielt eine bunte Stofftasche in der Hand, ihre Augen unterschieden sich in nichts von jenen der russischen Frauen.
    Es saßen Russinnen da, Armenierinnen, Ukrainerinnen, Jüdinnen, eine Kolchosbäuerin aus einem Moskauer Vorort. Der Alte, der das Formular ausfüllte, war Dozent an der Landwirtschaftlichen Timirjasew-Akademie, sein Enkel, ein Schüler, war verhaftet

Weitere Kostenlose Bücher