Leben und Schicksal
»Guten Tag, mein Armer, Lieber …«
Nowikow war groß, stark, breitschultrig, mächtig. Er brauchte ihre Unterstützung nicht, er würde es allein schaffen. Sie nannte ihn ihren Kürassier. Sie würde nun niemals mehr sein schönes, liebes Gesicht vergessen, würde sich immer nach ihm sehnen, nach dem Glück, das sie selbst zunichtegemacht hatte. Und wennschon, und wennschon, sie bedauerte sich nicht. Die eigenen Leiden fürchtete sie nicht.
Doch sie wusste, dass Nowikow gar nicht so stark war. Mitunter nahm sein Gesicht einen beinahe hilflosen, scheuen Ausdruck an …
Und so unbarmherzig sich selbst gegenüber und so gleichgültig, was den eigenen Schmerz anging, war sie auch nicht.
Als hätte Ljudmila den Gedanken der Schwester mitgedacht, fragte sie: »Und was wird aus dir und deinem General?«
»Ich fürchte mich, daran zu denken.«
»Ach, dir täte eine Tracht Prügel gut.«
»Ich konnte nicht anders handeln!«, sagte Jewgenia Nikolajewna.
»Mir gefällt dein Hin und Her nicht. Weg ist weg. Und wenn du einen anderen gefunden hast, dann bleib gefälligst bei ihm.«
»Ja, ja, fliehe das Böse, dann schaffst du Gutes? Ich kann nicht nach dieser Regel leben.«
»Ich meine etwas anderes. Ich achte Krymow, obwohl er mir nicht gefällt, und deinen General habe ich nie gesehen. Du hast dich entschieden, seine Frau zu werden, also halt dich dran. Es ist eine Verantwortung, und die willst du nicht. Der Mann hat einen hohen Rang, kämpft an der Front, und seine Frau schleppt unterdessen Pakete ins Gefängnis. Du weißt, womit das für Nowikow enden kann?«
»Ich weiß es.«
»Na, liebst du ihn denn überhaupt?«
»Ach, lass doch bitte«, sagte Genia mit weinerlicher Stimme und dachte: »Welchen liebe ich denn nun?«
»Nein, antworte mir.«
»Ich konnte nicht anders, man geht ja nicht zum Vergnügen in der Lubjanka Klinken putzen.«
»Du darfst nicht nur an dich denken.«
»Das ist es ja, ich denke nicht an mich.«
»Viktor spricht genauso. Im Grunde ist es aber nichts als Egoismus.«
»Deine Logik ist umwerfend, sie hat mich schon als Kind frappiert. Das nennst du Egoismus?«
»Ja, wie willst du ihm denn helfen? Am Urteil änderst du nichts.«
»Wenn man dich, so Gott will, mal einsperrt, wirst du noch erfahren, wie dir deine Angehörigen helfen können.«
Ljudmila Nikolajewna wechselte das Thema.
»Sag mal, Braut ohne Bräutigam, hast du Fotos von Marussja?«
»Nur eines. Erinnerst du dich, als wir in Sokolniki waren?«
Genia legte den Kopf auf Ljudmilas Schulter und klagte: »Ich bin so müde.«
»Ruh dich aus, schlaf ein wenig, geh heute nicht fort«, sagte Ljudmila. »Ich mache dir das Bett.«
Genia schüttelte mit halbgeschlossenen Augen den Kopf.
»Nein, nein, nicht nötig. Ich bin vom Leben müde.«
Ljudmila Nikolajewna holte einen großen Umschlag und schüttete der Schwester einen Packen Fotos in den Schoß.
Genia sah die Bilder durch. »Mein Gott, mein Gott«, rief sie immer wieder. »Dieses da, ich weiß noch, das haben wir auf der Datscha gemacht … Wie komisch Nadja drauf aussieht … Da, Papa nach der Verbannung … Mitja als Gymnasiast … Serjoscha sieht ihm erstaunlich ähnlich, besonders die obere Gesichtshälfte … Und Mama, mit Marussja auf dem Arm, ich war noch nicht auf der Welt …«
Sie bemerkte, dass es unter den Fotos keines von Tolja gab, aber sie fragte die Schwester nicht danach.
»Also, Madamchen«, sagte Ljudmila, »es ist Zeit fürs Mittagessen.«
»Mein Appetit ist immer noch gut«, sagte Genia, »wie in der Kindheit, die Aufregungen können ihm nichts anhaben.«
»Na, Gott sei Dank«, sagte Ljudmila Nikolajewna und gab der Schwester einen Kuss.
24
Vor dem Bolschoi-Theater, das mit einem gescheckten Tarnanstrich bedeckt war, stieg Genia aus dem Trolleybus und ging den Kusnezki Most hinauf, vorbei an den Galerieräumen des Künstlerverbandes, in denen vor dem Krieg ihre Malerkollegen ausgestellt und einst auch ihre Bilder gehangen hatten, ging vorbei und dachte nicht einmal daran.
Ein seltsames Gefühl beschlich sie: Ihr Leben war wie ein Stoß Karten, von einer Zigeunerin gemischt, eine Karte war auf Moskau gefallen.
Von weitem erblickte sie die dunkelgraue Granitmauer des mächtigen Hauses auf der Lubjanka.
»Grüß dich, Kolja«, dachte sie. Vielleicht fühlte Nikolai ihr Kommen und begriff nicht, woher die Unruhe kam, die ihn plötzlich befiel.
Das alte Schicksal war zu ihrem neuen Schicksal geworden. Was scheinbar für immer der Vergangenheit
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