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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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worden, offensichtlich wegen dummer Sprüche bei einem geselligen Abend.
    Genia hörte und erfuhr viel in diesen zwanzig Minuten.
    Der heutige Diensthabende ist nicht von der üblen Sorte … In der Butyrka nehmen sie keine Konserven, unbedingt müssen Knoblauch und Zwiebel in die Pakete, das hilft gegen Skorbut … Vorigen Mittwoch war ein Mann wegen seiner Papiere da, den haben sie drei Jahre in der Butyrka sitzenlassen, kein einziges Mal verhört und dann entlassen … Von der Verhaftung bis zum Lager dauert es ungefähr ein Jahr … Gute Kleidung sollte man nicht schicken: Im Zwischenlager auf der Krasnaja Presnja sperren sie die Politischen mit den Kriminellen zusammen, und die nehmen ihnen alles weg … Vor kurzem war eine Frau da, ihr Mann, ein hochdekorierter alter Konstrukteur, war verhaftet worden, weil man draufgekommen war, dass er in seiner Jugend ein kurzes Verhältnis mit einer anderen hatte und ihr danach Alimente für das Kind zahlte, das er niemals gesehen hatte, na, und dieses Kind wurde erwachsen, kam an die Front und lief zu den Deutschen über, und der Ingenieur bekam als Vater eines Hochverräters zehn Jahre aufgebrummt … Die meisten bekommen den Paragrafen 58.10, konterrevolutionäre Agitation, kurz: Die haben den Mund nicht halten können … Der wurde vor dem 1. Mai abgeholt, vor den Feiertagen wird überhaupt viel verhaftet … Eine Frau war da, die erhielt einen Anruf vom Untersuchungsrichter und hörte plötzlich die Stimme ihres Mannes …
    Es war merkwürdig, aber hier, in den Empfangsräumen der Staatssicherheit, wurde Genia ruhiger, es war ihr leichter ums Herz als nach dem Bad bei Ljudmila.
    Wie beneidenswert glücklich schienen die Frauen, die ein Paket abgeben durften.
    Neben ihr flüsterte jemand mit erstickter Stimme: »Die Auskünfte über Leute, die 1937 verhaftet wurden, saugen sie sich aus den Fingern. Der einen sagten sie, ihr Mann sei am Leben und arbeite, und als sie zum zweiten Mal kam, gab ihr derselbe Beamte den Bescheid, ihr Mann sei 1937 gestorben.«
    Doch endlich sah Genia die Augen des Mannes, der für ihr Anliegen zuständig war, hinter dem Schalterfenster vor sich. Er hatte das übliche Beamtengesicht, hatte gestern vielleicht in der Feuerwehrzentrale gearbeitet und würde morgen, wenn man es ihm befahl, Formulare für Ordensverleihungen ausfüllen.
    »Ich möchte mich nach einem Verhafteten erkundigen, Krymow, Nikolai Grigorjewitsch«, sagte Genia, und es schien ihr, als würden selbst Menschen, die niemals ein Wort mit ihr gewechselt hatten, bemerken, dass sie mit fremder Stimme sprach.
    »Wann verhaftet?«
    »Im November.«
    Er reichte ihr ein Formular.
    »Füllen Sie das aus, dann geben Sie es bei mir ab, außer der Reihe, die Antwort holen Sie sich morgen.«
    Als er ihr den Zettel reichte, sah er sie wieder an – und dieser flüchtige Blick nun war mitnichten der eines gewöhnlichen Kanzleibeamten, sondern der kluge, sich alles einprägende Blick eines Geheimdienstlers.
    Sie füllte das Formular aus, ihre Finger zitterten dabei genauso wie die des alten Dozenten von der Timirjasew-Akademie, der vor ihr auf demselben Stuhl gesessen hatte.
    Auf die Frage nach dem Verwandtschaftsgrad antwortete sie: Ehefrau, und machte einen dicken Strich darunter.
    Nachdem der Zettel abgegeben war, setzte sich Genia auf die Bank, um den Pass in ihrer Handtasche zu verstauen. Sie schob ihn mehrmals von einem Fach ins andere und erkannte, dass sie gerne länger bei den Menschen in der Schlange geblieben wäre.
    Sie hatte in diesen Minuten nur einen einzigen Wunsch, sie wollte Krymow wissen lassen, dass sie da war, dass sie seinetwegen alles aufgegeben hatte und zu ihm gereist war.
    Wenn er nur erfahren könnte, dass sie hier war, in seiner Nähe!
    Sie ging die Straße hinab, es dunkelte. In dieser Stadt hatte sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht. Doch es war so fern vom Heute, jenes Leben der Kunstausstellungen, der Theater- und Restaurantbesuche, der Symphoniekonzerte und der Sommermonate auf der Datscha, dass es scheinbar nicht mehr ihr Leben war. Stalingrad, Kuibyschew – das lag weit zurück, und weit entfernt war Nowikows feines Gesicht, das ihr manchmal göttlich schön erschien. Geblieben war lediglich der Empfangsraum auf dem Kusnezki Most 24, und es war ihr, als ginge sie durch die unbekannten Straßen einer unbekannten Stadt.
    25
    Während er im Flur die Überschuhe abstreifte und die Hausgehilfin grüßte, schielte Strum nach der halbgeöffneten Tür von

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