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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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hatte er starken Einfluss.«
    Genia sagte vorwurfsvoll: »Ach, Ljuda, du erinnerst dich immer an das Schlechte in den Menschen und sprichst es gerade in den Momenten laut aus, wo man es nicht tun sollte.«
    »Schön«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »ich bin halt grad wie ein Stock.«
    »Schon gut, sei bloß nicht so stolz auf deine stocksteife Tugend«, sagte Genia und setzte flüsternd hinzu: »Ljuda, ich war vorgeladen.«
    Sie nahm den Schal ihrer Schwester vom Sofa und legte ihn auf das Telefon.
    »Es könnte abgehört werden. Ich musste unterschreiben, dass ich keinem etwas erzähle.«
    »Hör mal«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »ich denke, du warst mit Nikolai gar nicht verheiratet.«
    »War ich auch nicht. Aber ich wurde wie seine Frau verhört. Hör zu. Die Vorladung kam, ich sollte mit Pass erscheinen. Ich dachte an alle – an Mitja, Ida, sogar an deinen Abartschuk, erinnerte mich an alle einsitzenden Bekannten, aber Nikolai – auf den Gedanken bin ich nicht gekommen. Man hatte mich für fünf Uhr vorgeladen. Eine ganz gewöhnliche Amtsstube. An der Wand riesige Bilder von Stalin und Berija. Ein junger Bursche mit ganz gewöhnlichem Gesicht schaute mich durchdringend und allwissend an und fragte sofort: ›Wissen Sie etwas über die konterrevolutionäre Tätigkeit von Nikolai Grigorjewitsch Krymow?‹ Und dann ging’s los. Ich saß zweieinhalb Stunden bei ihm. Einige Male dachte ich, dass ich dieses Zimmer nie mehr verlassen würde. Und stell dir vor, er hat sogar Andeutungen gemacht, dass ich mich mit Nowikow – eine Frechheit – nur deshalb eingelassen hätte, um Informationen, die er vielleicht ausplauderte, zu sammeln und an Nikolai Grigorjewitsch weiterzuleiten. Ich wurde innerlich ganz starr und sagte: ›Wissen Sie, Krymow ist ein so fanatischer Kommunist, dass man sich wie im Rayonkomitee fühlt, wenn man mit ihm zusammen ist.‹ Er widersprach: ›Ach so, haben Sie also in Nowikow keinen sowjetischen Menschen gefunden?‹ Ich antwortete: ›Sie haben ja eine merkwürdige Beschäftigung. Die Soldaten kämpfen an der Front gegen die Faschisten, und Sie, junger Mann, sitzen im Hinterland und bewerfen sie mit Dreck.‹ Ich dachte, er würde mir eine kleben, aber er verlor die Fassung und wurde rot. Also, Nikolai ist in Haft. Und die Beschuldigungen klingen irrwitzig: Trotzkismus, Kontakte zur Gestapo.«
    »Entsetzlich«, sagte Ljudmila Nikolajewna und dachte daran, dass auch Tolja in einen deutschen Kessel hätte geraten und gleichen Verdächtigungen hätte ausgesetzt werden können.
    »Ich stelle mir vor, wie Viktor diese Nachricht aufnehmen wird«, sagte sie. »Er ist jetzt sehr nervös, glaubt, dass man auch ihn einsperren wird. Dauernd erinnert er sich, wann, mit wem und worüber er gesprochen hat, besonders an dieses unheilvolle Kasan.«
    Jewgenia Nikolajewna schaute die Schwester lange an und sagte schließlich: »Weißt du, was das Schrecklichste ist? Dieser Untersuchungsrichter fragte mich: ›Wollen Sie mir weismachen, dass Sie vom Trotzkismus Ihres Mannes nichts wussten, obwohl er Ihnen von Trotzkis lobenden Worten über seinen Artikel erzählt hat?‹ Und als ich nach Hause ging, fiel mir ein, dass Nikolai mir tatsächlich gesagt hatte: ›Du allein kennst diese Worte.‹ Nachts traf es mich plötzlich wie ein Schlag: Als Nowikow im Herbst in Kuibyschew war, habe ich ihm davon erzählt. Ich dachte, ich werde verrückt, es war furchtbar.«
    »Du hast kein Glück. Immer müssen ausgerechnet dir solche Sachen passieren.«
    »Wieso denn ausgerechnet mir?«, fragte Jewgenia Nikolajewna. »Dir hätte doch das Gleiche passieren können.«
    »Nein. Hast dich von dem einen getrennt und wirfst dich dem anderen an den Hals. Dem einen erzählst du von dem anderen.«
    »Aber auch du hast dich von Toljas Vater getrennt, wahrscheinlich hast auch du Viktor Pawlowitsch vieles erzählt.«
    »Nein, das stimmt nicht«, sagte Ljudmila Nikolajewna überzeugt. »Das ist nicht zu vergleichen.«
    »Und wieso nicht?«, sagte Genia und spürte Erbitterung, während sie ihre ältere Schwester anblickte. »Gib doch zu: Was du redest, ist einfach dumm.«
    Ljudmila Nikolajewna erwiderte gelassen: »Mag sein, vielleicht ist es dumm.«
    »Hast du eine Uhr?«, fragte Jewgenia Nikolajewna. »Ich muss rechtzeitig auf dem Kusnezki Most Nummer 24 sein.« Sie verbarg nun ihren Ärger nicht mehr. »Du hast einen schwierigen Charakter, Ljuda. Es ist kein Zufall, dass du in einer Vierzimmerwohnung lebst, während Mutter es

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