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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Tschepyschins Arbeitszimmer.
    Die alte Natalja Iwanowna half ihm aus dem Mantel. »Geh nur, geh nur, er erwartet dich.«
    »Ist Nadeschda Fjodorowna zu Hause?«, fragte Strum.
    »Nein, sie ist gestern mit ihren Nichten auf die Datscha. Was meinen Sie, Viktor Pawlowitsch, wird der Krieg bald zu Ende sein?«
    »Man erzählt sich«, sagte er, »dass einige Bekannte den Fahrer von Schukow überredet haben, den Marschall zu fragen, wann der Krieg zu Ende geht. Schukow stieg ins Auto und fragte den Fahrer: ›Würdest du mir wohl sagen, wann dieser Krieg aus sein wird?‹«
    Tschepyschin kam Strum entgegen.
    »Fang mir nur ja nicht meine Gäste ab, Alte. Lad dir eigene ein.«
    Es war immer so gewesen, dass ein Besuch bei Tschepyschin Strum Auftrieb gegeben hatte; auch jetzt empfand er eine besondere, schon ungewohnte Leichtigkeit, obwohl ihm so schwer ums Herz war.
    Sobald er in Tschepyschins Arbeitszimmer trat und vor den Bücherregalen stand, pflegte er scherzend aus »Krieg und Frieden« zu zitieren: »Ja, die haben geschrieben, nicht gebummelt.«
    Dies sagte er auch jetzt.
    Die Unordnung in den Bücherregalen schien dem vermeintlichen Chaos in den Werkshallen des Tscheljabinsker Betriebs zu gleichen.
    »Haben Sie Post von Ihren Söhnen?«, fragte Strum.
    »Ja, vom Älteren kam ein Brief, der Jüngere ist im Fernen Osten.«
    Tschepyschin nahm Strums Hand und gab ihm mit dem stummen Händedruck zu verstehen, was mit Worten nicht gesagt werden muss. Und die alte Natalja Iwanowna trat zu Viktor Pawlowitsch und küsste ihn auf die Schulter.
    »Was gibt es bei Ihnen Neues?«, fragte Tschepyschin.
    »Dasselbe wie bei allen. Stalingrad. Jetzt steht es fest: Hitler – kaputt. Von mir persönlich kann ich wenig Gutes melden, im Gegenteil, nur Schlimmes.«
    Strum ging daran, Tschepyschin von seinen Kümmernissen zu erzählen.
    »Meine Freunde und meine Frau raten mir, Buße zu tun. Zu bereuen, dass ich recht habe.«
    Er sprach viel über sich, unersättlich, ein Schwerkranker, der Tag und Nacht mit seiner Krankheit beschäftigt ist.
    »Ich erinnere mich dauernd an unser Gespräch über den Sauerteig und den Mist, der an die Oberfläche geschwemmt wird.« Strum machte eine Grimasse, zuckte die Achseln. »Niemals hat es um mich so viel Lumperei gegeben, und aus irgendeinem Grund fiel alles mit den Tagen des Sieges zusammen, was mir besonders arg, verdammt arg zusetzt.«
    Er sah Tschepyschin ins Gesicht und fragte: »Sie glauben, es ist kein Zufall?«
    Ein erstaunliches Gesicht hatte Tschepyschin: Es war einfach, sogar derb, mit breiten Jochbeinen und Stupsnase, ein Bauerngesicht, und zugleich so hochintelligent und fein, dass ihn die Londoner Elite und Lord Kelvin darum hätten beneiden können.
    Mit düsterer Miene antwortete er: »Lassen Sie erst mal den Krieg vorbei sein, dann wollen wir uns unterhalten, was zufällig ist und was nicht.«
    »Mich werden bis dahin wohl die Säue verschlungen haben. Morgen wollen sie mich beim Wissenschaftsrat fertigmachen. Das heißt, mit dem Fertigmachen sind sie in der Direktion und beim Parteikomitee schon weit fortgeschritten, der Wissenschaftsrat soll bloß noch sein Plazet geben – die Stimme des Volkes, die Forderung der Öffentlichkeit.«
    Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Strum im Gespräch mit Tschepyschin: Sie sprachen über peinvolle Ereignisse in Strums Leben, aber ihm war ganz leicht ums Herz.
    »Und ich habe gedacht, man reicht Sie jetzt auf einem silbernen Präsentierteller herum, vielleicht sogar auf einem goldenen«, sagte Tschepyschin.
    »Wieso das? Habe ich nicht die Wissenschaft in den Morast talmudischer Abstraktionen geführt und sie der Praxis entfremdet?«
    Tschepyschin sagte: »Ja, ja. Es ist schon seltsam. Nehmen wir einen Mann, der eine Frau liebt. Sie ist sein Lebensinhalt, sein Glück, seine Leidenschaft und Freude. Aber aus irgendeinem Grund muss er das verbergen, das Gefühl wird gleichsam als ungehörig angesehen, so muss er also sagen, dass er mit einem Frauenzimmer schläft, weil sie für ihn kocht, seine Socken stopft, seine Wäsche wäscht.«
    Er hielt sich die Hand mit den gespreizten Fingern vors Gesicht. Auch seine Hände waren etwas Besonderes, Arbeiterhände, starke Pranken und zugleich ungeheuer aristokratisch.
    Plötzlich wurde Tschepyschin zornig: »Ich aber schäme mich nicht, ich brauche die Liebe nicht für den Magen. Der Wert der Wissenschaft liegt in dem Glück, das sie den Menschen bringt. Unsere Haudegen aus der Akademie aber, die wissen nur

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