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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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eins: Die Wissenschaft ist eine Dienstmagd der Praxis, eine unterwürfige Befehlsempfängerin, darum dulden wir sie! Nein! Wissenschaftlichen Entdeckungen wohnt ein eigener, höherer Wert inne! Sie haben mehr für die Selbstverwirklichung des Menschen getan als Dampfkessel, Turbinen, Flugzeuge und das gesamte Hüttenwesen von Noah bis zum heutigen Tag. Die Seele, die Seele!«
    »Ich stehe ja auf Ihrer Seite, Dmitri Petrowitsch, aber Genosse Stalin, der ist mit uns nicht einverstanden.«
    »Und das ist schade. Das ist ja die andere Seite der Medaille. Die heutigen Abstraktionen eines Maxwell werden morgen zu Funksignalen des Militärradios. Einsteins Feldtheorie, die Quantenmechanik Schrödingers und die Ideen Bohrs können morgen schon hocheffiziente praktische Anwendung finden. Das müsste man doch verstehen. Das ist doch so einfach, dass es eine Gans versteht.«
    »Aber auch Sie haben ja am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie wenig die politische Führung zugeben mag, dass die Theorie von heute zur morgigen Praxis wird«, warf Strum ein.
    »O nein, es ist umgekehrt«, sagte Tschepyschin langsam. »Ich wollte von mir aus die Leitung des Instituts abgeben, und zwar genau deshalb, weil die heutige Theorie morgen zur Praxis werden wird. Aber es ist schon höchst merkwürdig. Ich war überzeugt, dass man Schischakow eben wegen der Arbeit an den Kernprozessen ernannt hat. Und bei dieser Arbeit kommt man ohne Sie nicht aus … Vielmehr, ich war nicht überzeugt, ich bin es immer noch.«
    Strum sagte: »Ich verstehe die Motive Ihres Rücktritts nicht. Mir ist nicht klar, was Sie meinen. Unsere Obrigkeit hat das Institut doch nicht vor Aufgaben gestellt, die Sie hätten beunruhigen müssen. Das ist mal klar. Die Obrigkeit irrt sich aber oft genug in offensichtlicheren Dingen. Da hat unser Alleroberster die Freundschaft mit den Deutschen besiegelt und Hitler noch in den letzten Tagen vor dem Krieg per Expressgut Kautschuk und andere strategische Rohstoffe geliefert. Und in unseren Angelegenheiten ist es auch für den größten Politiker keine Schande, einen Bock zu schießen. In meinem Leben war es ja umgekehrt. Meine Vorkriegsarbeiten bezogen sich auf die Praxis. So bin ich auch nach Tscheljabinsk ins Werk gefahren, um dort bei der Montage der Elektronengeräte zu helfen. Und während des Krieges …«
    Er breitete mit fröhlicher Hoffnungslosigkeit die Arme aus.
    »Ich tappe im Dunkeln, zum Fürchten und zum Schämen ist es manchmal. Bei Gott … Ich versuche, eine Physik der nuklearen Wechselwirkungen zu begründen, und alles bricht zusammen – die Gravitation, die Masse, die Zeit; der Raum zersplittert und hat keine Existenz, einzig und allein einen mathematischen Sinn. Ich habe einen jungen, begabten Mann, Sawostjanow, im Labor, wir sprachen einmal über meine Arbeit. Er will das eine, das andre wissen. Ich antworte: ›Das ist noch keine Theorie, nur ein Programm und einige Gedanken. Der zweite Raum ist lediglich der Kennwert einer Gleichung, keine Realität. Die Symmetrie existiert allein in der mathematischen Gleichung, ich weiß nicht, ob ihr die Symmetrie der Teilchen entspricht. Die mathematischen Lösungen haben die Physik hinter sich gelassen, und ich weiß nicht, ob sich die Teilchenphysik in meine Gleichungen zwängen lassen möchte.‹ Sawostjanow hörte lange zu und meinte dann: ›Ich erinnere mich an einen Kommilitonen, der wurde einmal mit einer Gleichung nicht fertig und sagte zu mir: ›Weißt du, das ist keine Wissenschaft, sondern die Kopulation von zwei Blinden im Brennnesselgestrüpp …‹«
    Tschepyschin lachte.
    »Ja, wirklich, es wundert mich, dass Sie selbst nicht imstande sind, Ihrer Mathematik eine physikalische Bedeutung beizumessen. Wie bei der Katze im Wunderland: Zuerst erschien das Lächeln, dann die Katze selbst.«
    »Herrgott noch mal. Aber im tiefsten Herzen bin ich sicher: Hier haben wir den Hauptstrang des menschlichen Lebens, genau hier verläuft er. Ich werde meine Ansichten nicht ändern, ich werde nicht abschwören. Ich bin kein Abtrünniger, nein.« »Ich verstehe«, sagte Tschepyschin, »wie schwer es Ihnen fallen muss, das Labor zu verlassen, wo sich jeden Augenblick die Verbindung zwischen Ihrer Mathematik und der Physik abzeichnen könnte. Es ist bitter, aber ich freue mich für Sie. Ehrlichkeit lässt sich nicht ausmerzen.«
    »Wenn man bloß mich nicht ausmerzt«, sagte Strum.
    Natalja Iwanowna brachte den Tee herein und begann die Bücher wegzuschieben, um aufdecken

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