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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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war, erriet er es plötzlich – ja, auf sie hatte er gewartet und in einer Vorahnung ihres Besuchs gehorcht und immer wieder zur Tür geschaut.
    Er begriff es wegen der Leichtigkeit, der natürlichen Freude, die er bei ihrem Anblick sofort empfand. Ja, das war es. Sie hatte er treffen wollen, wenn er an den Abenden schweren Herzens aus dem Institut kam, bang die Passanten anstarrte und die Frauengesichter hinter den Straßenbahn- und Busfenstern musterte. Und wenn er sich zu Hause bei Ljudmila nach Besuchern erkundigte, wollte er wissen, ob sie da gewesen war. Das ging schon lange so … Sie kam, sie unterhielten sich, sie scherzten, dann verabschiedete sie sich, und er schien sie zu vergessen. Sie tauchte in seiner Erinnerung auf, wenn er mit Sokolow sprach, oder wenn Ljudmila ihm einen Gruß von ihr ausrichtete. Sie schien gleichsam nicht zu existieren außerhalb jener Minuten, da er sie sah oder in einem Gespräch eine nette Frau nannte. Wenn er manchmal Ljudmila ärgern wollte, frotzelte er, ihre Freundin habe weder Puschkin noch Turgenjew gelesen.
    Er war mit ihr im Neskutschny-Park spazieren gegangen, und er hatte sie gerne angeschaut, hatte es schön gefunden, dass sie so leicht und rasch seine Gedanken verstand, ohne sich auch nur einmal zu irren, der Ausdruck kindlicher Aufmerksamkeit, mit dem sie ihm zuhörte, hatte ihn gerührt. Dann hatten sie sich verabschiedet, und er hatte nicht mehr an sie gedacht. Als er durch die Straße ging, war sie ihm wieder eingefallen, aber er hatte sie erneut vergessen.
    Und nun spürte er, dass sie nicht aufgehört hatte, bei ihm zu sein, er hatte nur geglaubt, sie sei fort gewesen. Sie war bei ihm, auch wenn er nicht an sie dachte. Er traf sie nicht, erinnerte sich nicht an sie, aber sie blieb weiterhin bei ihm. Ohne an sie zu denken, fühlte er, dass sie nicht in seiner Nähe war, er begriff nicht, dass ihn ihre physische Abwesenheit, auch wenn er nicht an sie dachte, unentwegt mit Unruhe erfüllte. Und an diesem Tag, an dem er so viel von sich selbst verstanden hatte und von den Menschen, die ihr Leben neben dem seinen lebten, da erkannte er, während er ihr ins Gesicht schaute, was er für sie fühlte. Er freute sich, wenn er sie sah, weil dann dieses beständig nagende Gefühl ihres Nicht-da-Seins abriss. Es wurde ihm leicht, weil sie bei ihm war und er nicht mehr unbewusst ihre Abwesenheit empfand. In letzter Zeit hatte er sich ständig einsam gefühlt, einsam in den Gesprächen mit seiner Tochter, mit den Freunden, mit Tschepyschin, mit seiner Frau. Doch kaum erblickte er Marja Iwanowna, war das Gefühl der Einsamkeit wie weggeblasen.
    Diese Entdeckung überraschte ihn nicht, sie war natürlich und nicht zu bezweifeln. Wieso hatte er vor einem Monat, vor zwei Monaten, damals noch in Kasan, das Einfache und Unbezweifelbare nicht verstanden? Es war nur natürlich, dass sein Gefühl für sie an dem Tag, an dem er ihre Abwesenheit besonders stark empfand, aus der Tiefe an die Oberfläche hervorbrach und sein Denken in Beschlag nahm.
    Und da es unmöglich war, ihr irgendetwas zu verbergen, sagte er gleich hier in der Diele, die Stirn gerunzelt und sie fest anblickend: »Ich dachte immerzu, ich hätte einen Wolfshunger, und konnte es gar nicht erwarten, bis man mich zu Tisch ruft. Aber in Wirklichkeit habe ich gewartet, wann Marja Iwanowna endlich kommt.«
    Sie sagte nichts, schien es nicht gehört zu haben und ging ins Zimmer.
    Sie saß auf dem Sofa neben Genia, mit der man sie bekannt gemacht hatte, und Viktor Pawlowitsch ließ seinen Blick von Genia zu Marja Iwanowna, dann zu Ljudmila wandern.
    Wie schön die Schwestern waren! An diesem Tag wirkte Ljudmila Nikolajewnas Gesicht besonders schön. Die Härte, die es oft entstellte, war verschwunden. Ihre großen, hellen Augen hatten einen sanften, traurigen Ausdruck.
    Genia fühlte offensichtlich Marja Iwanownas Blick auf sich ruhen und ordnete ihr Haar.
    »Verzeihen Sie, Jewgenia Nikolajewna«, sagte Marja Iwanowna, »aber ich hatte keine Vorstellung davon, dass eine Frau so schön sein kann. Ein Gesicht wie das Ihre habe ich noch nie gesehen.«
    Sie errötete nach diesen Worten.
    »Betrachten Sie nur ihre Hände, Mascha, ihre Finger«, warf Ljudmila Nikolajewna ein, »und den Hals und die Haare.«
    »Und die Nasenflügel«, setzte Strum fort.
    »Was soll das?«, rief Genia. »Ihr tut, als wäre ich eine kaukasische Zuchtstute. Ich pfeife auf das ganze Gesäusel.«
    »Perlen vor die Säue«, sagte Strum, und obwohl gar

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