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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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nicht klar war, was diese Worte bedeuten sollten, brachten sie die anderen zum Lachen.
    »Willst du essen, Viktor?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.
    »Ja, ja, nein, nein«, sagte er und sah, wie Marja Iwanowna abermals errötete. Also hatte sie seine Worte in der Diele gehört.
    Sie saß wie ein kleiner Spatz neben den Schwestern, ein grauer, abgemagerter Spatz, sie hatte das Haar wie eine Volksschullehrerin über der niedrigen, gewölbten Stirn zurückgekämmt, trug eine an den Ellbogen gestopfte Strickjacke, und jedes Wort, das sie sagte, war für Strum von Klugheit, Takt und Güte erfüllt, jede ihrer Bewegungen drückte Grazie und Sanftmut aus.
    Sie vermied es, die Rede auf den Wissenschaftsrat zu bringen, erkundigte sich nach Nadja, bat Ljudmila Nikolajewna um Thomas Manns »Zauberberg«, fragte Genia nach Vera und deren kleinem Sohn aus und wollte wissen, was Alexandra Wladimirowna aus Kasan schrieb.
    Strum begriff nicht gleich auf Anhieb, dass Marja Iwanowna den einzig richtigen Ansatz für das Gespräch gefunden hatte. Sie unterstrich gleichsam, dass es keine Macht gab, die imstande wäre, die Menschen zu hindern, Menschen zu bleiben, dass auch der mächtigste Staat nicht in den Kreis von Vätern, Kindern und Schwestern einzudringen vermochte und dass sich an diesem schicksalhaften Tag ihre Bewunderung für die Menschen, mit denen sie beisammensaß, ebendarin ausdrückte, dass sie deren Recht anerkannte, nach dem inneren Sieg nicht über Dinge zu sprechen, die ihnen von außen aufgezwungen waren, sondern darüber, was in ihrem Inneren lebte.
    Sie hatte es richtig erfasst, und während die Frauen über Nadja und Veras Baby sprachen, saß er schweigend daneben und fühlte, wie das Licht, das in ihm aufgegangen war, gleichmäßig und warm weiterbrannte, nicht flackerte und nicht verblasste.
    Er glaubte, auch Genia sei Marja Iwanownas Charme erlegen. Ljudmila Nikolajewna ging in die Küche, und Marja Iwanowna ging hinterher, um ihr zu helfen.
    »Was für ein wunderbarer Mensch«, ließ sich Strum nachdenklich vernehmen.
    Genia rief ihn spöttisch an: »Vitka, he, Vitka?«
    Er sah sie verdattert an: So burschikos-kumpelhaft – Vitka – hatte ihn gut zwanzig Jahre niemand mehr genannt.
    »Das Dämchen ist in Sie verliebt wie eine Katze«, sagte Genia.
    »Ach, Blödsinn! Und warum Dämchen? Das ist sie wohl am allerwenigsten. Ljudmila hat noch nie eine Freundin gehabt. Mit Marja Iwanowna aber verbindet sie echte Freundschaft.«
    »Und wie steht’s mit Ihnen?«, fragte Genia listig.
    »Ich rede im Ernst«, sagte Strum.
    Sie merkte, dass er sich ärgerte, und sah ihn belustigt an.
    »Wissen Sie was, liebe Genia? Hol Sie der Teufel.«
    Da kam Nadja heim. Noch als sie in der Diele stand, fragte sie rasch: »Ist Papa bereuen gegangen?«
    Sie betrat das Zimmer. Strum umarmte und küsste sie. Jewgenia Nikolajewna betrachtete ihre Nichte mit feuchten Augen.
    »Sie hat keine Spur von unserem slawischen Blut in den Adern«, sagte sie. »Eine hundertprozentig hebräische Schönheit.«
    »Das sind Papas Gene«, sagte Nadja.
    »Du bist mein Herzblatt, Nadja«, sagte Jewgenia Nikolajewna. »Was Serjoscha für Großmutter ist, bist du für mich.«
    »Mach dir nichts draus, Papa, wir werden dich schon durchfüttern«, sagte Nadja.
    »Wer denn ›wir‹?«, erkundigte sich Strum. »Du und dein Leutnant? Wasch dir die Hände nach der Schule.«
    »Mit wem unterhält sich Mama draußen?«
    »Mit Marja Iwanowna.«
    »Gefällt dir Marja Iwanowna?«, fragte Genia.
    »Ich glaube, sie ist der beste Mensch auf der Welt. Ich würde sie heiraten«, sagte Nadja.
    »Ein guter Engel?« In Genias Stimme klang Spott.
    »Gefällt sie Ihnen denn nicht, Tante Genia?«
    »Ich mag keine Heiligen, in ihrer Heiligkeit liegt manchmal eine Spur von Hysterie«, sagte Genia. »Ich bevorzuge unverhohlene Hausdrachen.«
    »Hysterie?«, fragte Strum.
    »Ich schwöre Ihnen, Viktor, ich meinte damit nicht Marja Iwanowna.«
    Nadja ging in die Küche, und Jewgenia Nikolajewna sagte zu Strum: »Als ich in Stalingrad wohnte, hatte Vera einen Leutnant. Und nun hat Nadja auch einen. Die kommen und verschwinden. Gehen so leicht zugrunde. Wie traurig das ist, Viktor.«
    »Genia, Genia, liebe Jewgenia, hat Ihnen Marja Iwanowna wirklich nicht gefallen?«
    »Ich weiß es nicht, weiß gar nichts«, antwortete sie hastig. »Es gibt diesen Charakter bei Frauen, scheinbar nachgiebig, scheinbar opferbereit. Eine solche Frau sagt nie: ›Ich schlafe mit dem Kerl, weil es mir

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