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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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schlecht zu hören, auch sie hatte wohl nicht von zu Hause, sondern von einem öffentlichen Anschluss aus angerufen.
    »Hat Sokolow wirklich das Wort ergriffen?«, fragte sich Strum.
    Am späten Abend rief Tschepyschin an. Wie ein Schwerkranker lebte Strum an diesem Tag nur dann auf, wenn man mit ihm über seine Krankheit sprach. Tschepyschin musste es gespürt haben.
    »Hat Sokolow wirklich das Wort ergriffen?«, fragte Strum seine Frau, aber natürlich wusste sie genauso wenig wie er, ob Sokolow bei der Sitzung gesprochen hatte.
    Eine Art Spinnennetz entstand zwischen ihm und seiner nächsten Umgebung.
    Sawostjanow hatte offenbar Angst, über das zu sprechen, was Viktor Pawlowitsch interessierte, er fürchtete, sein Informant zu sein. Wahrscheinlich malte er sich aus, wie Strum jemandem vom Institut begegnete und verkündete: »Ich bin bereits im Bilde, Sawostjanow hat mir alles bis ins Detail erzählt.«
    Anna Stepanowna war überaus herzlich, aber sie hätte Strum in dieser Situation zu Hause aufsuchen müssen und sich nicht mit einem Telefonanruf begnügen dürfen.
    Und Tschepyschin, so überlegte Strum, hätte ihm die Mitarbeit an seinem Astrophysischen Institut anbieten, zumindest das Gespräch darauf bringen müssen.
    »Sie sind böse auf mich, ich bin böse auf sie, sie hätten lieber nicht anrufen sollen«, dachte er.
    Doch noch mehr kränkten ihn jene, die ihn überhaupt nicht anriefen.
    Den ganzen Tag lang wartete er auf Anrufe von Gurewitsch, Markow, Pimenow. Dann fielen ihm die Mechaniker und Elektriker von der Montage ein, und er ärgerte sich von Neuem.
    »Die Hundesöhne«, dachte er. »Was haben die als Arbeiter zu fürchten?«
    Unerträglich waren die Gedanken an Sokolow. Pjotr Lawrentjewitsch hatte Marja Iwanowna verboten, Strum anzurufen! Allen konnte er verzeihen, den alten Bekannten, den Kollegen, sogar den Verwandten. Aber dem Freund! Der Gedanke an Sokolow löste einen so verbitterten Zorn in ihm aus, einen so brennenden Schmerz vor Kränkung, dass er keine Luft mehr bekam. Und zugleich suchte er, wenn er an den Verrat des Freundes dachte, ohne es zu merken, eine Rechtfertigung für seinen eigenen Verrat an dem Freund.
    Vor lauter Nervosität schrieb er einen völlig unnützen Brief an Schischakow. Er ersuchte um Benachrichtigung betreffs des Direktionsbeschlusses und werde krankheitshalber in den nächsten Tagen nicht ins Labor kommen können.
    Den ganzen nächsten Tag über kam kein einziger Telefonanruf.
    »Schwamm drüber«, dachte Strum, »sie sperren mich sowieso ein.«
    Dieser Gedanke quälte ihn nicht mehr, nein, er war tröstend. Es war, wie wenn sich Kranke trösten: »Ach was, Krankheit hin, Krankheit her, sterben müssen wir alle.«
    Viktor Pawlowitsch sagte zu Ljudmila: »Der einzige Mensch, der Neuigkeiten ins Haus bringt, ist Genia. Allerdings sind es durchweg Neuigkeiten von den Schaltern des NKWD.«
    »Ich bin jetzt ganz sicher«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »dass Sokolow bei der Sitzung aufgetreten ist. Sonst könnte ich mir das Schweigen von Marja Iwanowna nicht erklären. Sie schämt sich nach alldem, bei uns anzurufen. Freilich könnte ich sie selbst anrufen, tagsüber, wenn er bei der Arbeit ist.«
    »Nein, um keinen Preis!«, schrie Strum. »Hörst du, Ljuda, um keinen Preis!«
    »Was schert mich denn dein Verhältnis zu Sokolow? Ich habe meine eigene Beziehung zu Mascha.«
    Er konnte ihr nicht erklären, warum sie Marja Iwanowna nicht anrufen durfte. Er schämte sich bei dem Gedanken, dass Ljudmila, ohne es zu wissen, ein Bindeglied zwischen Marja Iwanowna und ihm werden könnte.
    »Unsere Kontakte zu den Menschen, Ljuda, können jetzt nur noch einseitig sein. Wenn ein Mann verhaftet wird, darf seine Frau nur noch zu den Leuten gehen, die sie einladen. Sie hat kein Recht, zu sagen: Ich möchte Sie gerne besuchen. Es wäre eine Erniedrigung für sie und ihren Mann. Für uns, Ljuda, beginnt eine neue Zeit. Wir können niemandem mehr Briefe schreiben, lediglich Briefe beantworten. Wir können niemanden mehr anrufen, nur den Hörer abheben, wenn es läutet. Wir haben kein Recht mehr, einen Bekannten als Erste zu grüßen, denn vielleicht will er von uns nicht gegrüßt werden. Und wenn man mich auch grüßt, habe ich noch immer nicht das Recht, als Erster ein Gespräch zu beginnen. Vielleicht glaubt der andere, sich ein Zunicken erlauben zu dürfen, aber nicht gleich ein Gespräch. Er muss mich ansprechen, dann kann ich antworten. Wir sind in die große Kaste der

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