Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
– seine Ruhe war für alle Zeit dahin. Ob er in ständiger Sehnsucht fern von ihr weilte oder mit Gewissensqualen ihr nahe – seine Ruhe hatte er verloren.
    Sie aber sah ihn noch immer an, mit einem unerträglichen Ausdruck von Glück und Verzweiflung.
    Da hatte er sich nicht gebeugt, hatte standgehalten beim Zusammenprall mit der gewaltigen, unbarmherzigen Macht, und hier, auf dieser Bank, war er so schwach und hilflos.
    »Viktor Pawlowitsch«, sagte sie, »es ist höchste Zeit für mich, Pjotr Lawrentjewitsch wartet.«
    Sie nahm seine Hand. »Wir werden einander nicht mehr sehen. Ich habe Pjotr Lawrentjewitsch mein Wort gegeben, Sie nicht mehr zu treffen.«
    Etwas krampfte sich in ihm zusammen, so überkommt es Menschen, wenn sie an einer Herzkrankheit sterben: Das Herz, dessen Schläge nicht vom Willen des Menschen abhängen, steht still, und die Schöpfung beginnt zu wanken, stürzt ein, Luft und Erde verschwinden.
    »Warum, Marja Iwanowna?«, fragte er.
    »Pjotr Lawrentjewitsch hat mir das Wort abgenommen, dass ich Sie nicht mehr treffen werde. Ich habe ihm mein Wort gegeben. Es ist furchtbar, aber er ist in einem schlimmen Zustand, er ist krank, ich bange um sein Leben.«
    »Mascha«, sagte er.
    In ihrer Stimme, in ihrem Gesicht lag eine unverrückbare Kraft, ähnlich jener, auf die er in den letzten Tagen geprallt war.
    »Mascha«, sagte er wieder.
    »Mein Gott. Sie verstehen ja, Sie sehen ja, ich verberge nichts, wozu darüber reden. Ich kann nicht, kann nicht. Pjotr Lawrentjewitsch hat so viel Schlimmes durchgemacht. Sie wissen es ja selbst. Denken Sie an das Leid, das Ljudmila Nikolajewna zu tragen hat. Es geht nicht.«
    »Gewiss, wir haben kein Recht«, wiederholte er mehrmals.
    »Mein Lieber, Guter, mein Armer, mein Herz«, sagte sie.
    Sein Hut fiel auf die Erde, die Leute sahen sich wahrscheinlich nach ihnen um.
    »Ja, ja, wir haben kein Recht«, wiederholte er von Neuem.
    Er küsste ihre Hände, und als er ihre kalten, kleinen Finger hielt, war ihm, als verbinde sich die unverrückbare Kraft ihres Entschlusses, ihn nicht zu sehen, mit Schwäche, Demut, Hilflosigkeit …
    Sie stand auf und ging, ohne sich umzublicken, er saß auf der Bank und dachte, dass er zum ersten Mal seinem Glück in die Augen gesehen habe, dem Licht seines Lebens. Und nun war alles dahin. Er hatte das Gefühl, diese Frau, deren Finger er eben geküsst hatte, könnte ihm alles ersetzen, was er im Leben erstrebte und wovon er träumte: die Wissenschaft, den Ruhm, die Freude der landesweiten Anerkennung.
    28
    Am Tag nach der Sitzung des Wissenschaftsrats rief Sawostjanow bei Strums an, fragte Viktor Pawlowitsch, wie er sich fühle und ob Ljudmila Nikolajewna wohlauf sei.
    Strum erkundigte sich nach der Sitzung, und Sawostjanow gab Auskunft: »Viktor Pawlowitsch, ich möchte Ihnen das Herz nicht schwermachen, aber es hat sich herausgestellt, dass es mehr Lumpen gibt, als ich geglaubt habe.«
    »Hat etwa Sokolow geredet?«, dachte Strum und fragte: »Und die Resolution?«
    »Die ist brutal, von Unvereinbarkeit ist darin die Rede und davon, dass die Direktion weitere Schritte prüfen soll …«
    »Ich verstehe«, sagte Strum, und obwohl er sicher gewesen war, dass die Resolution genau so ausfallen würde, war er vor Überraschung wie vor den Kopf gestoßen.
    »Ich habe keine Schuld«, dachte er, »aber natürlich werden sie mich einsperren. Man hat ja auch gewusst, dass Krymow unschuldig ist, und ihn trotzdem eingesperrt.«
    »Hat jemand dagegen gestimmt?«, fragte er weiter, und der Telefondraht trug ihm das verlegene Schweigen Sawostjanows zu.
    »Nein, Viktor Pawlowitsch, es war wohl ein einstimmiger Beschluss. Sie haben sich mit Ihrem Fernbleiben sehr geschadet.«
    Sawostjanow war schlecht zu verstehen, er rief offensichtlich von einem öffentlichen Fernsprecher an.
    Am selben Tag kam ein Anruf von Anna Stepanowna, sie war bereits entlassen, ging nicht mehr ins Institut und wusste nichts von der Sitzung des Wissenschaftsrats. Sie fahre für zwei Monate zu ihrer Schwester nach Murom und lade ihn ein – Strum war von dieser Herzlichkeit gerührt –, sie zu besuchen.
    »Danke, danke«, sagte Strum, »wenn schon Murom, dann nicht zur Erholung, sondern um Physik an einer Berufsschule zu unterrichten.«
    »Allmächtiger, warum haben Sie das getan, Viktor Pawlowitsch, alles wegen mir, ich bin verzweifelt. Bin ich das denn wert?«
    Seine Worte über die Berufsschule hatte sie offensichtlich als Vorwurf verstanden. Auch ihre Stimme war

Weitere Kostenlose Bücher