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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Unberührbaren eingetreten.«
    Er schwieg eine Weile.
    »Doch zum Glück für die Unberührbaren gibt es bei diesem Gesetz auch Ausnahmen. Es gibt ein, zwei Menschen – ich spreche nicht von den Verwandten, deiner Mutter, Genia –, die bei den Unberührbaren uneingeschränktes seelisches Vertrauen genießen. Die können ohne Freifahrtsignal angerufen, angeschrieben werden. Tschepyschin zum Beispiel!«
    »Du hast recht, Viktor, das stimmt alles«, sagte Ljudmila Nikolajewna, und ihre Worte erstaunten ihn. Seit langem schon hatte sie nicht mehr zugegeben, dass er im Recht war. »Auch ich habe einen solchen Freund: Marja Iwanowna!«
    »Ljuda! Ljuda! Weißt du auch, dass Marja Iwanowna ihrem Mann das Wort gegeben hat, nicht mehr mit uns zusammenzukommen? Geh nur, ruf sie doch an! Na, tu’s doch endlich!«
    Er riss den Hörer vom Apparat und hielt ihn ihr hin.
    Im selben Augenblick hoffte er in einem Zipfelchen seiner Seele, dass Ljudmila anrufen würde, dass wenigstens sie die Stimme von Marja Iwanowna zu hören bekäme.
    Doch Ljudmila Nikolajewna sagte: »Ach, so ist das.« Und legte den Hörer auf.
    »Wo bloß unsere Jewgenia bleibt?«, fragte Strum. »Leid verbindet. Niemals habe ich so viel Zärtlichkeit für sie empfunden wie jetzt.«
    Als Nadja kam, sagte Strum zu ihr: »Nadja, ich habe mit Mama gesprochen, sie wird dir alles erklären. Jetzt, wo ich der Buhmann geworden bin, darfst du nicht mehr zu den Postojews, Gurews und allen anderen. Alle diese Leute sehen in dir zuallererst meine Tochter, mein Kind. Verstehst du, was du bist: ein Mitglied meiner Familie. Ich bitte dich inständig …«
    Er wusste, was sie sagen, wie sie protestieren und sich empören würde.
    Nadja schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
    »Das war mir doch schon alles klar, als ich gesehen habe, dass du nicht zum Rat der Ruchlosen gegangen bist.«
    Verwirrt betrachtete er seine Tochter, dann sagte er spöttisch: »Ich hoffe, den Leutnant tangieren diese Dinge nicht.«
    »Natürlich nicht.«
    »Wie bitte?«
    Sie zuckte die Achseln. »Schon gut. Du verstehst schon.«
    Strum sah seine Frau und seine Tochter an, reichte ihnen die Hand und verließ das Zimmer. In seiner Geste lag so viel Verstörtheit, Schuld und Schwäche, Dankbarkeit und Liebe, dass beide lange nebeneinander stehen blieben, ohne ein Wort zu sagen und einen Blick zu wechseln.
    29
    Zum ersten Mal während des Krieges nahm Darenski den Weg der Offensive, um die nach Westen rollenden Panzerverbände einzuholen.
    Im Schnee auf dem weiten Feld und neben den Straßen standen ausgebrannte und zerfetzte deutsche Panzer, Geschütze und italienische Lastwagen mit stumpfer Schnauze, dazwischen lagen die Leichen gefallener Deutscher und Rumänen.
    Der Tod und die Kälte hatten das Bild von der Zerschlagung der feindlichen Armeen fixiert. Chaos, Verstörung, Leid – alles war in den Schnee eingeprägt, eingefroren und bewahrte in eisiger Reglosigkeit die letzte Verzweiflung der in krampfhafter Anstrengung auf den Straßen hin- und herjagenden Fahrzeuge und Menschen.
    Selbst Feuer und Qualm der explodierten Geschosse und die rauchenden Flammen der Lagerfeuer hatten sich dem Schnee aufgeprägt, als dunkle Flecken, gelbe und braune Eiskrusten.
    Die sowjetischen Truppen marschierten nach Westen, Massen von Kriegsgefangenen nach Osten.
    Die Rumänen trugen grüne Soldatenmäntel und hohe Lammfellmützen. Sie litten offenbar weniger unter der Kälte als die Deutschen. Bei ihrem Anblick hatte Darenski nicht das Gefühl, dass es Soldaten einer zerschlagenen Armee waren – da gingen Tausende müder, hungriger Bauern, aufgeputzt mit opernhaften Mützen. Über die Rumänen machte man sich lustig, betrachtete sie aber ohne Zorn, eher mit mitleidiger Verachtung. Bald stellte er fest, dass man den Italienern noch gutmütiger begegnete.
    Die Ungarn, die Finnen, besonders aber die Deutschen lösten ein anderes Gefühl aus. Die gefangenen Deutschen boten einen furchtbaren Anblick. Um ihre Köpfe und Schultern hatten sie Deckenfetzen gewickelt. Um ihre Beine hatten sie oberhalb der Stiefel Sackleinwand und andere Lumpen gebunden und mit Draht oder Bindfaden befestigt. Bei vielen waren Ohren, Nase und Wangen von schwarzem Frostbrand bedeckt. Das leise Klirren der Essnäpfe an den Gürteln hörte sich an wie Kettenrasseln.
    Darenski blickte auf die Leichen, die in hilfloser Schamlosigkeit ihre eingefallenen Bäuche und Geschlechtsorgane entblößt hatten, er musterte die vom eiskalten Steppenwind

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