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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ein von Hand aufgeschriebenes Lagerlied.
    Darin war die Rede von kalten Schiffsladeräumen, vom Tosen des Ozeans, davon, wie die Häftlinge unter dem Schaukeln leiden und sich wie leibliche Brüder umarmen, und davon, wie aus dem Nebel Magadan auftaucht, die Hauptstadt von Kolyma.
    In den ersten Tagen ihrer Ankunft in Moskau war Strum böse geworden, wenn Nadja sich zu solchen Themen äußerte, und hatte sie unterbrochen.
    Aber in diesen Tagen hatte sich vieles an ihm verändert. Jetzt hielt er sich nicht mehr zurück und sagte in Nadjas Anwesenheit, dass es unerträglich sei, die salbungsvollen Ergebenheitsbriefe an den »großen Lehrer, den besten Freund der Sportler, den weisen Vater, die mächtige Koryphäe, das leuchtende Genie« zu lesen; außerdem sei dieser noch bescheiden, empfindsam, gutmütig und verständnisvoll. Es entstehe der Eindruck, als pflüge Stalin, schmelze Metalle, füttere Kleinkinder in der Krippe, schieße mit dem Maschinengewehr, während Arbeiter, Rotarmisten, Studenten und Wissenschaftler nichts anderes täten, als ihn anzubeten, und als ob das ganze Volk, gäbe es Stalin nicht, wie eine hilflose Herde verrecken würde.
    Einmal zählte Strum Stalins Namen sechsundachtzigmal in der »Prawda«, an einem anderen Tag wurde er allein im Leitartikel achtzehnmal erwähnt.
    Strum klagte über rechtswidrige Verhaftungen, über das Fehlen der Freiheit, darüber, dass jeder nicht besonders gebildete Vorgesetzte mit dem Parteibuch in der Tasche sich das Recht nahm, Wissenschaftler und Schriftsteller herumzukommandieren, ihnen Zensuren zu geben, sie zu belehren.
    In Strum war ein neues Gefühl erwacht. Die wachsende Angst vor der vernichtenden Macht des staatlichen Zorns, das sich ständig steigernde Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit, der kläglichen Machtlosigkeit, des Verdammtseins – das alles brachte in ihm zuweilen Verwegenheit und Bosheit hervor, freche Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren, die Verachtung jeglicher Vorsicht …
    Eines Morgens rannte Strum in Ljudmilas Zimmer; beim Anblick seines freudig erregten Gesichts geriet sie in Verwirrung – so ungewöhnlich war dieser Ausdruck bei ihm.
    »Ljuda, Genia! Wir haben wieder ukrainischen Boden betreten. Es wurde gerade im Radio durchgegeben!«
    Mittags kehrte Jewgenia Nikolajewna vom Kusnezki Most zurück. Strum sah ihr ins Gesicht und fragte, wie Ljudmila ihn am Morgen gefragt hatte: »Was ist denn passiert?«
    »Die haben ein Päckchen angenommen, ein Päckchen angenommen!«, rief Genia.
    Selbst Ljudmila verstand, was dieses Päckchen mit Genias Zeilen für Krymow bedeuten würde.
    »Die Auferstehung von den Toten«, sagte sie und fügte hinzu: »Vielleicht liebst du ihn doch noch. Ich kann mich nicht erinnern, dass du je so frohe, glückliche Augen hattest.«
    »Weißt du, ich bin wahrscheinlich verrückt«, flüsterte Jewgenia Nikolajewna ihrer Schwester zu. »Ich bin glücklich, weil Nikolai das Päckchen bekommt und weil ich es heute eingesehen habe: Nowikow hat diese Gemeinheit einfach nicht begehen können. Verstehst du mich?«
    Ljudmila Nikolajewna wurde ärgerlich: »Du bist nicht verrückt, du bist mehr als verrückt.«
    »Vitja, Lieber, spielen Sie etwas für uns«, bat Jewgenia Nikolajewna.
    Während dieser ganzen Zeit hatte er kein einziges Mal am Klavier gesessen. Jetzt aber ließ er sich nicht lange bitten, holte die Noten, zeigte sie Genia und fragte: »Einverstanden?« Ljudmila und Nadja, die die Musik nicht mochten, gingen in die Küche, Strum begann zu spielen, und Genia hörte zu. Er spielte lange, nach dem Stück schwieg er, ohne Genia anzusehen, dann spielte er ein neues Stück. In manchen Augenblicken glaubte sie, Viktor Pawlowitsch schluchzen zu hören, aber sie sah sein Gesicht nicht. Da flog die Tür auf, und Nadja rief: »Macht das Radio an, ein Befehl!«
    Die Musik wurde von der metallisch klingenden Stimme des Sprechers Lewitan abgelöst, der in diesem Moment sagte: »… nahmen im Sturm die Stadt und den wichtigen Eisenbahnknotenpunkt …« Dann wurden die Generäle und Truppen aufgezählt, die sich in den Kämpfen besonders verdient gemacht hatten. Die Aufzählung begann mit dem Namen des Generalleutnants Tolbuchin, der die Armee befehligte, und plötzlich stieß Lewitans jubelnde Stimme hervor: »… sowie das Panzerkorps unter dem Kommando von Oberst Nowikow.«
    Genia stöhnte leise auf, und als die rhythmische, kräftige Stimme des Sprechers sagte: »Ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit

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