Leben und Schicksal
Menschen böse, obwohl ihm die christliche Tugend der Vergebung völlig fremd war. Er war auch Schischakow oder Pimenow nicht böse, hatte keine Rachegefühle gegenüber Swetschin, Gurewitsch oder Kowtschenko. Nur einer machte ihn so rasend, dass ihm heiß und schwer beim Atmen wurde, sobald er an ihn dachte. Es schien, als sei alle Grausamkeit, alles Unrecht, das an ihm begangen worden war, von Sokolow ausgegangen. Wie hatte er Marja Iwanowna bloß verbieten können, die Familie Strum zu besuchen! Wie feige und zugleich brutal, erniedrigend und gemein!
Aber er musste sich doch selbst eingestehen, dass seine Wut sich nicht nur aus dem Gedanken an Sokolows Schuld ihm gegenüber nährte, sondern auch aus dem geheimen Gefühl seiner eigenen Schuld Sokolow gegenüber.
Jetzt sprach auch Ljudmila Nikolajewna immer öfter über materielle Dinge. Die übergroße Wohnfläche, die Einkommensbescheinigung für die Hausverwaltung, Lebensmittelgutscheine, die man in einem neuen Lebensmittelgeschäft einlösen sollte, das Limitbuch für das neue Jahresquartal, der ungültig gewordene Pass und die Notwendigkeit, bei der Verlängerung eine Arbeitsbescheinigung vorzulegen – all das beunruhigte Ljudmila Nikolajewna Tag und Nacht. Und woher sollte man das Geld zum Leben nehmen?
Früher, als es Strum noch prächtig ging, hatte er im Spaß gesagt: »Ich werde zu Hause an theoretischen Fragen arbeiten, mir eine Laborküche einrichten.«
Jetzt war es nicht mehr so lustig. Das Geld, das er als Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften bekam, würde kaum ausreichen, um die Miete, die Datscha, Strom und Gas zu bezahlen. Auch die Einsamkeit machte ihm zu schaffen.
Man muss doch leben!
Die Lehrtätigkeit an einer Hochschule war ihm verwehrt. Wie konnte man denn einen Menschen auf die Jugend loslassen, der einen politischen Makel hatte?
Was tun?
Seine angesehene wissenschaftliche Position hinderte ihn auch daran, eine unbedeutende Stelle anzunehmen. Jeder Leiter einer Personalabteilung würde aufstöhnen und sich weigern, einen Doktor der Wissenschaften, ein Korrespondierendes Mitglied der Akademie als Redakteur von technischen Büchern oder als Physiklehrer am Technikum einzustellen.
Und wenn die Gedanken an die verlorene Arbeit, an Not, Abhängigkeit und Erniedrigung besonders unerträglich wurden, sagte er sich: »Wenn sie mich nur bald einsperrten!«
Aber Ljudmila und Nadja würden zurückbleiben und von irgendetwas leben müssen. Die Erdbeeren auf der Datscha konnte man vergessen! Man würde ihnen die Datscha abnehmen, im Mai musste der Pachtvertrag verlängert werden. Die Datscha wurde nicht von der Akademie, sondern von der Behörde gestellt. Er hatte aus Schlamperei die Pachtzahlungen vernachlässigt, dachte nun aber daran, alles auf einmal zu bezahlen für die zurückliegenden Monate und fürs nächste halbe Jahr. Nun aber ließen ihn die Summen, die noch vor einem Monat so unbedeutend gewesen waren, in echte Panik geraten.
Wo sollte er das Geld hernehmen? Nadja brauchte einen Mantel. Borgen? Aber man darf sich nichts borgen, wenn man keine Hoffnung hat, die Schuld je zu begleichen.
Sachen verkaufen? Aber wer würde in Kriegszeiten Porzellan oder ein Klavier kaufen? Und außerdem wäre es sehr schade – Ljudmila liebte ihre Sammlung, selbst jetzt, nach Toljas Tod, hatte sie ihre Freude daran.
Er stellte sich oft vor, wie es wäre, wenn er zum Kriegskommissariat ginge, auf seine Freistellung für die Akademie verzichtete und sich freiwillig zur Front meldete.
Wenn er darüber nachdachte, wurde ihm ruhiger zumute.
Dann aber stellten sich wieder die beunruhigenden und quälenden Gedanken ein. Wie würden Ljudmila und Nadja leben? Nachhilfeunterricht erteilen? Zimmer vermieten? Aber da würden sich sofort die Hausverwaltung und die Miliz einschalten. Nächtliche Razzien, Geldstrafen, Vernehmungsprotokolle.
Wie mächtig, wie bedrohlich, wie weise erschienen ihm, dem entrechteten Menschen, nun die Hausverwalter, Revieraufseher der Miliz, Inspekteure des Bezirkswohnungsamtes und Sekretärinnen der Kaderabteilungen.
Selbst in dem jungen Mädchen, das im Gutscheinbüro für Lebensmittel sitzt, spürt ein Mensch, der den Boden unter den Füßen verloren hat, eine riesige, unerschütterliche Kraft.
Das Gefühl der Angst, Hilflosigkeit, Unsicherheit beherrschte Viktor Pawlowitsch den ganzen Tag. Allerdings gab es dabei durchaus Schwankungen. Verschiedene Tageszeiten hatten ihre eigenen Ängste, ihre eigene
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