Leben und Schicksal
lasen ihm seine Wünsche von den Augen ab, errieten sie aus dem Tonfall seiner Stimme. Es reichte, wenn er einen Menschen gutmütig anlächelte, um dessen Schicksal total zu verändern: Darbte dieser Mensch gerade noch in der Finsternis, im Nichts, so wurde er nun mit Ruhm, Ehre und Macht überschüttet. Und Dutzende von mächtigen Personen neigten vor dem Glückspilz ihr Haupt, denn Stalin hatte ihn angelächelt, mit ihm gescherzt, ihn angerufen.
Die Menschen verbreiteten die Einzelheiten dieser Gespräche, jedes von Stalin gesprochene Wort verwunderte sie. Je alltäglicher das Wort war, desto größer die Verwunderung. Wer hätte gedacht, dass Stalin gewöhnliche Worte aussprechen konnte?
Man erzählte, er habe einen berühmten Bildhauer angerufen und scherzhaft gesagt: »Grüß dich, alter Säufer!«
Bei einem anderen berühmten und sehr guten Menschen erkundigte er sich nach einem verhafteten Freund, und als sein Gesprächspartner in Panik geriet und eine undeutliche Antwort murmelte, sagte Stalin: »Schlecht verteidigen Sie Ihre Freunde.«
Man erzählte, er habe die Redaktion einer Jugendzeitung angerufen, wo sich der stellvertretende Chefredakteur gemeldet habe: »Hier Bubekin.«
Stalin fragte: »Und wer ist Bubekin?«
Der antwortete: »Das weiß man«, und knallte den Hörer auf die Gabel.
Stalin rief von Neuem an und sagte: »Genosse Bubekin, hier spricht Stalin. Erklären Sie mir bitte, wer Sie sind.«
Man erzählte, dass Bubekin nach diesem Vorfall zwei Wochen im Krankenhaus lag, um einen Nervenzusammenbruch auszukurieren.
Ein Wort von Stalin konnte Tausende und Abertausende von Menschen vernichten. Ein Marschall, ein Volkskommissar, ein Mitglied des Zentralkomitees der Partei, ein Gebietsparteisekretär – Männer, die noch gestern Armeen und Fronten befehligten, über ganze Regionen, Republiken und riesige Fabriken herrschten, konnten sich heute, nach einem einzigen zornigen Wort von Stalin, in ein Nichts, in Lagerstaub verwandeln, mit dem Kochgeschirr klappernd vor der Lagerküche auf ihre Wassersuppe warten.
Man erzählte, dass Stalin und Berija eines Nachts einen alten Bolschewiken, einen Georgier, der kurz zuvor aus der Lubjanka entlassen worden war, besucht und bis in den Morgen hinein bei ihm gesessen hätten. Die Mieter hatten Angst, während der Nacht auszutreten, und gingen am Morgen nicht zum Dienst. Die Wohnungsälteste, eine Hebamme, hatte den Gästen die Tür geöffnet. Sie kam im Nachthemd an die Tür, hielt einen Mops im Arm und war wütend, weil die nächtlichen Eindringlinge nicht beim richtigen Mitbewohner geklingelt hatten. Später erzählte sie: »Ich öffnete die Tür, sah das Porträt, und plötzlich kam es auf mich zu.« Stalin sei auf den Flur gegangen und habe sich lange die Liste angeschaut, in der die Mieter die Zahl der Telefongespräche eintrugen, um zu wissen, wer wie viel zu bezahlen hatte.
All diese Geschichten überraschten und belustigten gerade durch die Alltäglichkeit der Worte und Umstände – es war unfassbar: Stalin ging durch den Flur einer Gemeinschaftswohnung! Schließlich entstanden auf ein einziges Wort von ihm riesige Bauvorhaben, gingen ganze Kolonnen von Holzfällern in die Taiga, schaufelten Hunderttausende von Menschen Kanäle aus, errichteten Städte, bauten Straßen in einem Landstrich mit Polarnacht und Permafrostboden. Stalin verkörperte den großen Staat! Die Sonne der Stalin’schen Verfassung … die Partei Stalins … die Stalin’schen Fünfjahrespläne … die Stalin’schen Bauprojekte … die Stalin’sche Strategie … die Stalin’sche Luftwaffe. Der große Staat manifestierte sich in ihm, in seinem Charakter, in seinen üblen Angewohnheiten.
Viktor Pawlowitsch wiederholte immer wieder: »Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit … Sie arbeiten in einer sehr interessanten Richtung.«
Jetzt war es klar: Stalin wusste, dass sich das Ausland für Physiker interessierte, die Phänomene der Atomkraft erforschten.
Strum spürte, dass um diesen Problemkreis eine sonderbare Spannung entstanden war, er fühlte sie in den Artikeln englischer und französischer Physiker zwischen den Zeilen, in dem, was unausgesprochen blieb und die logische Gedankenführung unterbrach. Er merkte auch, dass die Namen von Forschern, die oft eigene Arbeiten veröffentlicht hatten, aus den Fachzeitschriften für Physik verschwunden waren; einige, die an der Spaltung des schweren Kerns arbeiteten, hatten sich gleichsam in Luft aufgelöst, niemand bezog
Weitere Kostenlose Bücher