Leben und Schicksal
Rede von Brdsola, Brdsola …
Eintausend Jahre lang war Russland ein Land der uneingeschränkten Autokratie und des Absolutismus gewesen, ein Land der Zaren und Günstlinge. Aber selbst in dieser tausendjährigen Geschichte hatte es keine Macht gegeben, die der Stalins gleichgekommen wäre.
Doch heute regte sich Strum nicht darüber auf, entsetzte sich nicht. Je grandioser Stalins Macht war, je ohrenbetäubender die Hymnen und Paukenklänge, je größer die Weihrauchwolken zu Füßen des lebendigen Idols, desto stärker war Strums Glücksrausch.
Die Dunkelheit brach herein, aber er hatte keine Angst.
Stalin hatte mit ihm gesprochen! Stalin hatte zu ihm gesagt: »Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit.«
Als es dunkel war, ging er auf die Straße. An diesem dunklen Abend spürte er kein Gefühl der Hilflosigkeit oder des Verdammtseins. Er war ruhig. Er wusste, dass da, wo die Haftbefehle ausgeschrieben werden, schon alles bekannt war. Und es mutete ihn sonderbar an, wenn er nun an Krymow, Dmitri, Abartschuk, Madjarow, Tschetwerikow dachte … Deren Schicksal war nicht das seine geworden. Er dachte mit Trauer und innerer Entfremdung an sie.
Strum freute sich über seinen Sieg – seine seelische Kraft und sein Verstand hatten gesiegt. Es machte ihm nichts aus, dass sein heutiges Glück dem so gar nicht ähnlich war, das er am Tag des Gerichts empfunden und seiner Mutter anvertraut hatte, deren Gegenwart er damals deutlich fühlte. Jetzt war ihm einerlei, ob Madjarow verhaftet war, ob Krymow Aussagen über ihn machen würde. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keine Angst wegen seiner aufrührerischen Witze und unvorsichtigen Reden.
Spät am Abend, als Ljudmila und Nadja schon schliefen, läutete das Telefon.
»Guten Tag«, sagte eine leise Stimme, und die Aufregung, die Strum packte, war wohl noch größer als jene, die ihn am Tag ergriffen hatte.
»Guten Tag«, sagte er.
»Ich musste einfach Ihre Stimme hören. Sagen Sie mir irgendetwas«, bat sie.
»Mascha, liebe Mascha«, sagte er und verstummte.
»Viktor, mein Lieber, ich konnte Pjotr Lawrentjewitsch nicht mehr belügen. Ich habe ihm gesagt, dass ich Sie liebe. Ich habe ihm geschworen, Sie nie wiederzusehen.«
Am Morgen betrat Ljudmila Nikolajewna sein Zimmer, strich ihm über das Haar und küsste seine Stirn.
»Ich habe wie im Traum gehört, dass du heute Nacht mit jemandem telefoniert hast.«
»Du hast dich bestimmt geirrt«, sagte er ruhig und schaute ihr fest in die Augen.
»Bitte, vergiss nicht, du musst zum Hausverwalter.«
43
Das Jackett des Untersuchungsrichters nahm sich in Augen, die nur den Anblick von Feldblusen und Uniformjacken gewohnt waren, seltsam aus. Das Gesicht des Untersuchungsrichters hingegen war normal, es gab viele solcher gelblich blassen Gesichter unter den Amtsstubenmajoren und politischen Funktionären.
Auf die ersten Fragen zu antworten war leicht, sogar angenehm, es war, als würde alles andere ebenso klar und offensichtlich sein wie Name, Vorname, Vatersname.
In den Antworten des Verhafteten war die hastige Bereitschaft zu spüren, dem Untersuchungsrichter zu helfen. Schließlich wusste der Untersuchungsrichter nichts über ihn. Der Amtstisch, der zwischen ihnen stand, trennte sie nicht. Sie bezahlten beide Parteimitgliedsbeiträge, hatten den Film »Tschapajew« gesehen, im Zentralkomitee Instruktionen bekommen und waren in den Tagen vor dem 1. Mai in die Betriebe geschickt worden, um Vorträge zu halten.
Die einleitenden Fragen waren zahlreich, und der Verhaftete wurde immer ruhiger. Bald würden sie zum Kern der Sache kommen, und er würde erzählen, wie er die Männer aus der Einkesselung geführt hatte.
Dann lag endlich klar auf der Hand, dass das unrasierte Subjekt mit geöffnetem Kragen und abgetrennten Knöpfen, das dem Untersuchungsrichter gegenübersaß, einen Vor-, Vaters- und Familiennamen hatte, an einem Herbsttag geboren war, die russische Nationalität besaß, an zwei Weltkriegen und einem Bürgerkrieg teilgenommen hatte, keiner Bande angehörte, nicht vor Gericht gestanden hatte, seit 25 Jahren Parteimitglied, Delegierter des Kominternkongresses sowie des Pazifischen Gewerkschaftskongresses war, keine Orden und keine Ehrensäbel besaß …
Krymows seelische Anspannung hing mit dem Gedanken an die Einkesselung zusammen, er dachte an die Männer, die mit ihm durch die weißrussischen Sümpfe und die ukrainischen Felder marschiert waren.
Wer von ihnen war verhaftet worden, wer hatte im
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