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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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zur wunderbaren Wissenschaft, verabschiedete er sich von jenem Gefühl, das ihm vor einigen Wochen zugeflogen war, als er die ungeheure Angst besiegt und sich selbst nicht belogen hatte.
    Es gab nur einen Menschen, mit dem er darüber hätte sprechen können, aber der war nicht bei ihm.
    Seltsam. In seiner Seele brannte die Ungeduld – alle sollten so schnell wie möglich erfahren, was geschehen war. Im Institut, in den Hörsälen der Universität, im ZK der Partei, in der Akademie, bei der Hausverwaltung, in der Kommandantur der Datschen-Siedlung, an den Lehrstühlen, in den wissenschaftlichen Verbänden. Strum war es egal, ob Sokolow von dieser Neuigkeit erfuhr. Und Marja Iwanowna? Nicht sein Verstand, aber sein Herz hatte etwas dagegen, dass sie etwas davon erführe. Er ahnte, dass es für seine Liebe besser wäre, wenn er als Verfolgter und Unglücklicher dastünde. So schien es ihm jedenfalls.
    Er erzählte seiner Frau und seiner Tochter eine Geschichte, die beide schon aus der Vorkriegszeit kannten: Stalin erschien eines Nachts in der U-Bahn. Er war leicht angetrunken, setzte sich neben eine junge Frau und fragte sie: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    Die Frau sagte: »Ich würde sehr gern den Kreml besichtigen.«
    Stalin überlegte und antwortete dann: »Das könnte ich wahrscheinlich für Sie einrichten.«
    Nadja sagte: »Siehst du, Papa, du bist heute so erhaben, dass Mama dich diese Geschichte zu Ende erzählen lässt. Sie hat dich nicht unterbrochen, obwohl sie sie zum hundertsten Mal gehört hat.«
    Und sie lachten zum hundertsten Mal über die einfältige Frau.
    Ljudmila Nikolajewna fragte: »Vitja, vielleicht sollten wir zur Feier des Tages ein Glas Wein trinken?«
    Sie brachte eine Schachtel Pralinen, die für Nadjas Geburtstag aufgehoben worden war.
    »Esst nur«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »aber Nadja – stürz dich nicht so gierig darauf wie ein Wolf.«
    »Papa, hör mal«, sagte Nadja, »wieso lachen wir über diese Frau in der U-Bahn? Warum hast du ihn nicht auf Onkel Mitja oder Nikolai Grigorjewitsch angesprochen?«
    »Was redest du da? Darf man denn an so etwas überhaupt nur denken?«
    »Ich glaube schon. Großmutter hätte es getan, ich bin sicher. Sie hätte es ihm gesagt.«
    »Vielleicht«, sagte Strum, »vielleicht.«
    »Hört mit dem Quatsch auf«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
    »Schöner Quatsch, das Schicksal deines Bruders«, spottete Nadja.
    »Vitja«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »du solltest Schischakow anrufen.«
    »Du unterschätzt offenbar das, was sich zugetragen hat. Ich brauche jetzt niemanden mehr anzurufen.«
    »Ruf Schischakow an«, wiederholte Ljudmila Nikolajewna hartnäckig.
    »Wenn Stalin einem sagt: ›Ich wünsche Ihnen Erfolg‹, dann wird man gerade Schischakow anrufen.«
    Seltsame Empfindungen beherrschten Strum an diesem Tag. Er hatte sich ständig über den Götzenkult um Stalin empört. Der Name Stalin fiel unzählige Male in den Zeitungen, von der ersten bis zur letzten Seite. Alle diese Bildnisse, Büsten, Statuen, Oratorien, Poeme, Hymnen …
    Man nannte ihn Vater, Genie …
    Strum hatte es empört, dass der Name Stalins den Lenins überschattete, dass Stalins militärisches Genie der zivilen Denkweise Lenins gegenübergestellt wurde. In einem Bühnenstück von Alexej Tolstoi zündete Lenin diensteifrig ein Streichholz an, damit Stalin seine Pfeife anrauchen konnte. Ein Maler hatte gezeichnet, wie Stalin die Stufen des Smolny-Palastes emporsteigt und Lenin ihm beflissen nacheilt. Wenn Lenin und Stalin auf einem Bild inmitten einer Volksmenge gemalt waren, dann schauten nur alte Leute und Kinder voller Liebe auf Lenin, Stalin aber wurde von bewaffneten Giganten umringt – von Arbeitern und Matrosen, die mit Patronengürteln behängt waren. Die Historiker, die die schicksalhaften Ereignisse in der Geschichte des Sowjetstaates schilderten, stellten es so dar, als habe Lenin Stalin ständig um Rat gebeten – während des Aufstandes von Kronstadt, bei der Verteidigung von Zarizyn, während der polnischen Offensive. Dem Streik in Baku, an dem Stalin teilgenommen hatte, und der revolutionären Untergrundzeitung »Brdsola«, »Der Kampf«, die er irgendwann einmal redigiert hatte, räumten die Parteihistoriker mehr Platz ein als der ganzen revolutionären Bewegung in Russland.
    »Brdsola, Brdsola«, hatte Viktor Pawlowitsch ärgerlich wiederholt. Da hatte es Scheljabow, Plechanow, Kropotkin und die Dekabristen gegeben, aber jetzt war nur noch die

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