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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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quälende Gedanke ein, dass man ihn verhaften würde, und das Grauen davor bekam immer schrecklicheres Gewicht. Aber wenn ihm dann der Untergang absolut unvermeidlich schien, packte ihn plötzlich die Heiterkeit! Hol’s der Teufel!
    Er glaubte, verrückt zu werden, wenn er über die Ungerechtigkeit nachdachte, die man seiner Arbeit hatte widerfahren lassen. Aber wenn der Gedanke, er sei unbegabt und dumm und seine Arbeit stelle nur einen zweifelhaften Abklatsch der realen Welt dar, kein Gedanke mehr war, sondern zum Lebensgefühl wurde, dann überkam ihn der Galgenhumor.
    Jetzt dachte er nicht einmal daran, seine Fehler einzugestehen – er war ja bedauernswert, unwissend, seine Reue hätte ohnehin nichts geändert. Niemand brauchte ihn, ob er bereute oder nicht – für den zürnenden Staat war er ein Nichts.
    Auch Ljudmila hatte sich in dieser Zeit stark verändert. Jetzt befahl sie dem Hausverwalter nicht mehr telefonisch: »Schicken Sie mir unverzüglich einen Schlosser!«, führte keine Nachforschungen im Treppenhaus durch: »Wer hat schon wieder seine Küchenabfälle neben den Müllschlucker geworfen?« Wenn sie sich anzog, wirkte sie fahrig und unkonzentriert. Mal zog sie unnötigerweise den teuren Pelz an, um Speiseöl aus dem Geschäft zu holen, mal vermummte sie sich mit einem alten grauen Tuch und zog den Mantel an, den sie schon vor dem Krieg der Liftfrau hatte schenken wollen.
    Strum betrachtete Ljudmila und überlegte, wie sie beide wohl in zehn oder fünfzehn Jahren aussehen würden.
    »Erinnerst du dich an Tschechows ›Bischof‹? Die Mutter hütete die Kuh und erzählte den anderen Frauen, ihr Sohn sei einst Erzbischof gewesen, aber niemand glaubte ihr.«
    »Ist schon lange her, dass ich es gelesen habe. Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
    »Dann lies es noch mal«, sagte er gereizt.
    Sein ganzes Leben lang hatte er sich über Ljudmila Nikolajewnas Gleichgültigkeit Tschechow gegenüber geärgert, und er argwöhnte, dass sie viele Tschechow-Erzählungen nicht gelesen hatte.
    Aber wie sonderbar! Je hilfloser und schwächer er wurde, je mehr er sich dem Zustand völliger geistiger Trägheit näherte, je unbedeutender er in den Augen des Hausverwalters, des Mädchens aus dem Gutscheinbüro, der Milizangestellten, der Personalabteilungsleiter, der Laboranten, Wissenschaftler, Freunde, sogar einiger Verwandter, vielleicht sogar in den Augen Tschepyschins und seiner eigenen Frau wurde – desto lieber, desto teurer wurde er Mascha. Sie sahen sich nicht, aber er wusste, spürte es. Bei jedem neuen Schlag, bei jeder neuen Erniedrigung fragte er sie in Gedanken: »Siehst du mich, Mascha?«
    So saß er neben seiner Frau, sprach mit ihr und war in seine geheimen Grübeleien vertieft.
    Das Telefon klingelte. Anrufe versetzten sie jetzt so in Panik wie sonst nur ein nächtliches Telegramm, das stets eine Unglücksbotschaft überbrachte.
    »Ich weiß schon, man hat mir versprochen anzurufen. Es geht um die Näharbeit«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
    Sie nahm den Hörer ab, hob die Brauen und sagte: »Er kommt gleich. – Für dich.«
    Strum fragte mit einem Blick: »Wer?«
    Sie deckte die Muschel mit der Handfläche ab und erwiderte: »Eine unbekannte Stimme, kann mich nicht erinnern.«
    Strum nahm den Hörer.
    »Bitte, ich warte«, sagte er, schaute in Ljudmilas fragende Augen, tastete auf dem Tischchen nach dem Bleistift und kritzelte ein paar Buchstaben auf einen Papierfetzen.
    Ohne zu merken, was sie tat, bekreuzigte sich Ljudmila Nikolajewna langsam, dann schlug sie das Kreuz über Viktor Pawlowitsch. Sie schwiegen.
    »… hier sind alle Rundfunkstationen der Sowjetunion.«
    Und da wandte sich die Stimme, die unvorstellbar ähnlich klang wie jene, die sich am 3. Juli 1941 an das Volk, an die Armee, an die ganze Welt gewandt hatte – »Genossen, Brüder, Freunde …« –, nur an diesen einen Menschen, der den Telefonhörer in der Hand hielt, und sagte: »Guten Tag, Genosse Strum.«
    In diesen Sekunden der chaotischen Gedanken, der Gedankenfetzen, der Gefühlsfetzen ballte sich alles zu einem Klumpen zusammen: Triumph, Schwäche, die Angst vor einem Streich, den ihm jemand spielen wollte, die dichtbeschriebenen Manuskriptseiten, das Formular, das Gebäude am Lubjanka-Platz …
    Strum fühlte mit jeder Faser seines Körpers, dass sich sein Schicksal erfüllte, und zugleich empfand er Wehmut über den Verlust von etwas, das ihm ans Herz gewachsen war.
    »Guten Tag, Jossif

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