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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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rief nicht an. Alles hatte man ihm genommen – seine Arbeit, seine Ehre, seine Ruhe, den Glauben an sich selbst. War ihm auch die letzte Zuflucht genommen worden – die Liebe?
    Es gab Augenblicke der Verzweiflung, in denen er die Hände vor den Kopf schlug und glaubte, er könne nicht leben, ohne sie zu sehen. Manchmal murmelte er: »Na ja, na und, was soll’s?« Manchmal sagte er zu sich: »Wer braucht mich denn jetzt noch?«
    Aber in der Tiefe seiner Verzweiflung existierte ein helles Fleckchen – das Empfinden der Seelenreinheit, die er und Marja Iwanowna sich bewahrt hatten. Sie litten, schonten aber die anderen. Doch er verstand auch, dass alle seine Gedanken – die philosophischen, friedlichen und bösen, nicht dem entsprachen, was in seiner Seele vorging. Der Ärger über Marja Iwanowna, die Selbstironie, das traurige Sichabfinden mit dem Unvermeidlichen, die Gedanken an seine Pflicht gegenüber Ljudmila Nikolajewna und an sein ruhiges Gewissen – das alles war nur ein Mittel, um die eigene Verzweiflung zu bekämpfen. Wenn er sich an ihre Augen, ihre Stimme erinnerte, überkam ihn unerträgliche Sehnsucht. Würde er sie niemals wiedersehen?
    Als die Unvermeidlichkeit der Trennung und das Gefühl des Verlusts besonders unerträglich wurden und Viktor Pawlowitsch sich seiner selbst schämte, sagte er zu Ljudmila Nikolajewna: »Weißt du, der Gedanke an Madjarow quält mich. Ich wüsste gerne, ob es ihm gutgeht, ob es Nachrichten von ihm gibt. Könntest du nicht mal Marja Iwanowna anrufen und dich nach ihm erkundigen?«
    Am erstaunlichsten war wohl, dass er seine Arbeit fortsetzte. Er arbeitete, doch die Schwermut, die Unruhe und der Kummer vergingen dadurch nicht. Die Arbeit half ihm nicht, gegen diese Zustände anzukämpfen, sie war keine seelische Arznei. Er suchte in ihr nicht Betäubung der schweren Gedanken, der seelischen Verzweiflung. Sie war mehr als eine Medizin.
    Er arbeitete, weil er nicht imstande war, nicht zu arbeiten.
    42
    Ljudmila Nikolajewna erzählte ihrem Mann, dass ihr der Hausverwalter begegnet sei und sie gebeten habe, Strum möge bei der Hausverwaltung vorsprechen.
    Sie begannen zu rätseln, was das bedeuten könnte. Eine zu große Wohnfläche? Die Verlängerung des Ausweises? Eine Überprüfung durch das Kriegskommissariat? Vielleicht hatte jemand Anzeige erstattet, weil Genia ohne Anmeldung bei ihnen gewohnt hatte?
    »Du hättest ihn fragen sollen«, sagte Strum, »dann bräuchten wir uns jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen.«
    »Natürlich«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Aber ich hab die Fassung verloren, als er sagte: ›Ihr Mann sollte morgen vorbeischauen, zum Dienst geht er ja jetzt nicht mehr.‹«
    »Mein Gott, die wissen schon alles.«
    »Jetzt spionieren doch alle: die Hauswarte, die Fahrstuhlführer, die Hausangestellten der Nachbarn. Da braucht man sich nicht zu wundern.«
    »Ja, ja. Erinnerst du dich, wie vor dem Krieg ein junger Mann mit einem roten Büchlein erschien und dich aufforderte, ihm mitzuteilen, wer die Nachbarn besucht?«
    »Und ob ich mich erinnere«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Den habe ich so angebrüllt, dass er in der Tür nur noch stammeln konnte: ›Und ich dachte, Sie seien klassenbewusst!‹«
    Ljudmila Nikolajewna hatte diese Geschichte schon oft erzählt, und Strum unterbrach sie gewöhnlich, um ihre Erzählung abzukürzen. Jetzt aber fragte er seine Frau nach jeder Einzelheit, ließ ihr Zeit.
    »Und weißt du«, fuhr sie fort, »vielleicht hat es mit den beiden Tischdecken zu tun, die ich auf dem Trödelmarkt verkauft habe.«
    »Das glaube ich nicht. Dann hätten sie nicht mich vorgeladen, sondern dich!«
    »Vielleicht wollen sie, dass du etwas unterschreibst«, sagte sie unsicher.
    Finstere Gedanken plagten ihn. Immer wieder erinnerte er sich an seine Gespräche mit Schischakow und Kowtschenko – was hatte er denen nicht alles erzählt. Er erinnerte sich an seine Diskussionen als Student – was hatte er da nicht alles geschwatzt. Er hatte mit Dmitri, mit Krymow diskutiert – manchmal hatte er auch Krymows Meinung geteilt. Aber nie im Leben, nicht eine Minute, war er gegen die Partei oder die Sowjetmacht gewesen. Doch wenn ihm besonders schroffe Worte einfielen, die er gesagt hatte, erstarrte er innerlich. Sogar Krymow, der zähe, ergebene und fanatische Kommunist, der nie Zweifel gehabt hatte, war verhaftet worden. Und diese verdammten Symposien mit Madjarow und Karimow.
    Wie seltsam!
    Gewöhnlich stellte sich in der Abenddämmerung der

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