Leben und Schicksal
Wissarionowitsch«, sagte er und konnte kaum glauben, dass er, Strum, diese unvorstellbaren Worte in die Muschel sprach: »Guten Tag, Jossif Wissarionowitsch.«
Das Gespräch dauerte zwei oder drei Minuten.
»Mir scheint, Sie arbeiten in einer interessanten Richtung«, sagte Stalin.
Seine tiefe, kehlige Stimme, die alle Vokale ausdrucksvoll betonte, klang wie nachgemacht, so sehr ähnelte sie der Stimme, die Strum im Radio hörte. Wenn er zu Hause Faxen machte, äffte er diese Stimme manchmal nach. Genau so ahmten auch jene Menschen sie nach, die Stalin bei Parteikongressen gehört hatten oder bei ihm gewesen waren.
War es möglich, dass sich jemand über Strum lustig machen wollte?
»Ich glaube an meine Arbeit«, sagte Strum.
Stalin schwieg, offenbar überdachte er Strums Worte.
»Wird Ihnen in dieser Kriegszeit genügend ausländische Fachliteratur zur Verfügung gestellt, sind Sie mit Geräten ausgestattet?«, fragte Stalin.
Und mit einer Aufrichtigkeit, die ihn selbst überraschte, erklärte Strum: »Besten Dank, Jossif Wissarionowitsch, die Arbeitsbedingungen sind ganz normal, gut.«
Ljudmila Nikolajewna hörte sich das Gespräch im Stehen an, als könne Stalin sie sehen.
Strum machte ihr ein Zeichen mit der Hand, als wolle er ihr bedeuten: »Setz dich, schämst du dich nicht.«
Stalin schwieg wieder, überlegte sich Strums Worte und sagte: »Auf Wiedersehen, Genosse Strum, ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit.«
»Auf Wiedersehen, Genosse Stalin.«
Strum legte den Hörer auf.
Sie saßen einander gegenüber, genauso wie wenige Minuten zuvor, als sie über die Tischdecken sprachen, die Ljudmila Nikolajewna auf dem Tischinski-Markt verkauft hatte.
»Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit«, sagte Strum auf einmal mit starkem georgischem Akzent.
Dass sich an der Anrichte, dem Klavier, den Stühlen nichts verändert hatte, dass die beiden benutzten Teller noch genauso auf dem Tisch standen wie bei dem Gespräch über den Hausverwalter, war unglaublich, unvorstellbar. Alles hatte sich radikal verändert, vor ihnen lag ein neues Schicksal.
»Was hat er zu dir gesagt?«
»Nichts Besonderes. Er fragte, ob meine Arbeit darunter leide, dass nicht genug ausländische Fachliteratur da sei«, sagte Strum, der sich selbst gegenüber ruhig und gefasst erscheinen wollte.
Sekundenlang war ihm das Glücksgefühl peinlich, das ihn ergriffen hatte.
»Ljuda, Ljuda«, sagte er, »denk dir: Ich habe nicht bereut, mich nicht gebeugt, ihm keinen Brief geschrieben. Er selbst hat angerufen, er selbst!«
Das Unglaubliche war geschehen! Die Wucht des Ereignisses traf Strum gewaltig. War er es wirklich gewesen, der nachts nicht hatte schlafen können, beim Ausfüllen von Fragebögen zusammengezuckt war und sich an den Kopf gegriffen hatte, wenn er daran dachte, was in der Sitzung des Wissenschaftsrats über ihn geredet worden war? War er es gewesen, der sich an die eigenen Sünden erinnert, in Gedanken bereut und um Verzeihung gebeten hatte, der auf die Verhaftung gewartet, an Elend und Not gedacht hatte und vor Angst erstarrt war, wenn er sich ein Gespräch in der Anmeldestelle oder mit dem Mädchen aus dem Gutscheinbüro vorstellte?
»Mein Gott, großer Gott«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Tolja wird es nie erfahren.«
Sie ging zur Tür von Toljas Zimmer und öffnete sie.
Strum nahm den Telefonhörer ab und hängte ihn wieder ein.
»Vielleicht treibt doch jemand ein böses Spiel mit mir«, sagte er und ging zum Fenster.
Die Straße unten war leer, nur eine Frau in einer Wattejacke ging vorüber.
Er trat wieder ans Telefon, klopfte mit gekrümmtem Finger gegen den Hörer.
»Wie war meine Stimme?«, fragte er.
»Du hast sehr langsam gesprochen. Ich weiß selbst nicht, warum ich plötzlich aufgestanden bin.«
»Stalin!«
»Vielleicht ist es doch nur ein übler Streich?«
»Wer würde denn so etwas wagen? So ein Scherz bringt bestimmt zehn Jahre ein.«
Erst eine Stunde zuvor war er durch das Zimmer gewandert und hatte sich an die Romanze von Golenischtschew-Kutusow erinnert: »… vergessen, liegt er nun allein …«
Stalins Telefonanrufe! Ein- oder zweimal jährlich lief in Moskau ein Gerücht um: Stalin hat den Filmregisseur Dowschenko angerufen, Stalin hat den Schriftsteller Ehrenburg angerufen.
Er brauchte nicht zu befehlen: Gebt dem oder jenem eine Auszeichnung, eine Wohnung, baut ein Forschungsinstitut für ihn! Er war zu erhaben, um über solche Dinge zu reden. Das taten seine Helfer, sie
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