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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Verhör die Willenskraft und das Gewissen verloren? Eine plötzliche Frage, die ganz andere, weit zurückliegende Jahre betraf, verblüffte Krymow: »Sagen Sie, in welche Zeit fällt Ihre Bekanntschaft mit Fritz Hacken?«
    Er schwieg lange, dann sagte er: »Wenn ich mich nicht irre, dann habe ich ihn im Zentralrat der Gewerkschaften kennengelernt, im Arbeitszimmer von Tomski, wenn ich mich nicht irre, im Frühling 1927 …«
    Der Untersuchungsrichter nickte, als sei ihm dieser weit zurückliegende Sachverhalt bekannt.
    Dann seufzte er, öffnete eine Mappe mit der Aufschrift »Aufbewahren für alle Zeit«, löste ohne Hast die weißen Schnüre und durchblätterte die vollgeschriebenen Seiten. Krymow sah undeutlich verschiedenfarbige Tinten, Schreibmaschinenschrift mit unterschiedlichen Zeilenabständen, schwungvolle und eng angeordnete Notizen, die mit Rot- und Blaustift oder gewöhnlichem Bleistift geschrieben waren.
    Der Untersuchungsrichter blätterte langsam die Seiten um, wie ein Einserstudent ein Lehrbuch durchblättert, im Bewusstsein, dass er das Fach von Anfang bis Ende durchgearbeitet hat.
    Bisweilen warf er einen Blick auf Krymow. Auch hier war er ein Künstler, prüfte die Ähnlichkeit der Zeichnung mit dem Modell, was die äußeren Züge, den Charakter und auch den Spiegel der Seele – die Augen – anging.
    Wie böse wurde sein Blick! Sein gewöhnliches Gesicht – solche Gesichter hatte Krymow häufig nach 1937 in den Rayon- und Bezirkskomitees, bei der Rayonpolizei, in den Bibliotheken und Verlagen gesehen – verlor plötzlich seine Gewöhnlichkeit. Der Mann bestand, wie Krymow schien, von Kopf bis Fuß aus einzelnen kleinen Würfeln, aber diese Würfel waren nicht zu einer Einheit – einem Menschen – vereint. Ein Würfel enthielt die Augen, ein zweiter die sich langsam bewegenden Hände, ein dritter den Mund, der Fragen stellte. Die Würfel vermischten sich, verloren die Proportionen, der Mund wurde unverhältnismäßig groß, die Augen waren niedriger als der Mund, sie saßen auf der zerfurchten Stirn, aber die Stirn war dort, wo das Kinn sein sollte.
    »Nun, auf diese Weise also«, sagte der Untersuchungsrichter, und sein Gesicht vermenschlichte sich wieder. Er schloss die Akte, verknüpfte aber nicht die sich ringelnden Schnüre.
    »Wie ein aufgeschnürter Stiefel«, dachte das Subjekt, von dessen Hose und Unterhose man die Knöpfe abgetrennt hatte.
    »Kommunistische Internationale«, sagte der Untersuchungsrichter langsam und feierlich und fügte in normalem Ton hinzu: »Nikolai Krymow, Mitarbeiter der Komintern.« Dann sagte er wieder langsam und feierlich: »Dritte Kommunistische Internationale.«
    Dann dachte er lange schweigend nach.
    »Ach, und das kecke Frauenzimmer Muska Grinberg«, fuhr der Untersuchungsrichter plötzlich lebhaft und verschlagen fort, sprach so, wie Männer untereinander sprechen, und Krymow wurde verlegen, verlor die Fassung, errötete stark.
    Ja, da war etwas gewesen, aber wie lange lag das schon zurück, doch die Scham hielt an. Wahrscheinlich liebte er Genia schon damals. Er fuhr wohl nach der Arbeit zu seinem alten Freund, wollte eine Schuld begleichen, hatte sich offenbar von ihm Geld für eine genehmigte Reise geborgt. An alles Weitere erinnerte er sich indes sehr gut. Konstantin war nicht zu Hause gewesen. Dabei hatte sie ihm nie gefallen; vom Kettenrauchen war ihre Stimme tief und rau geworden; sie urteilte über alles mit Nachdruck, war im Philosophie-Institut Stellvertreterin des Parteisekretärs, allerdings eine schöne, wie man sagt, attraktive Frau. Ach, er hatte Konstantins Frau auf dem Sofa genommen und sich noch zweimal mit ihr getroffen.
    Eine Stunde zuvor hatte er noch gedacht, dass der Untersuchungsrichter, ein Aufsteiger aus einem ländlichen Bezirk, nichts über ihn wissen könnte. Doch die Zeit verging, und der Untersuchungsrichter fragte nach ausländischen Kommunisten, Genossen von Nikolai Grigorjewitsch; er kannte die Kurzformen ihrer Vornamen und ihre Spitznamen, die Namen ihrer Frauen und ihrer Geliebten. Etwas Unheilvolles lag in der ungeheuren Menge seiner Kenntnisse. Wäre Nikolai Grigorjewitsch ein hochbedeutender Mann und jedes seiner Worte von historischer Wichtigkeit gewesen, selbst dann hätte es sich nicht gelohnt, so viel Ramsch und Lappalien in dieser Akte zu sammeln.
    Aber es gab keine Lappalien.
    Wo immer er gewesen war, dort hatte er eine Spur hinterlassen. Ein Gefolge hatte sich ihm an die Fersen geheftet und sich sein Leben

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