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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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man solche Gespräche nicht … »Ich küsse deine Schnute … du willst nicht, na gut, gut …«
    Natürlich, wenn Krymow nach Bogolejews Theorie eine Angorakatze, ein Frosch, ein Stieglitz oder einfach ein aufgespießter Käfer war, dann hatte dieses Gespräch nichts Ungewöhnliches.
    Am Ende fragte der Untersuchungsrichter: »Es brennt an? Also lauf, lauf, bis später dann.«
    Darauf zog er ein Buch und einen Notizblock hervor und begann zu lesen. Von Zeit zu Zeit schrieb er etwas mit dem Bleistift. Vielleicht bereitete er sich auf den Unterricht in einer Arbeitsgemeinschaft vor, vielleicht auf ein Referat …
    Mit drohender Gereiztheit sagte er: »Was stampfen Sie dauernd mit den Füßen auf wie bei einer Sportparade?«
    »Die Füße schlafen mir ein, Bürger Untersuchungsrichter.«
    Aber der Untersuchungsrichter versenkte sich erneut in ein wissenschaftliches Buch.
    Etwa zehn Minuten später fragte er zerstreut: »Na, erinnern Sie sich?«
    »Bürger Untersuchungsrichter, ich muss auf die Toilette.«
    Der Untersuchungsrichter seufzte, trat zur Tür, rief leise jemanden. Er hatte die Miene eines Herrchens, dessen Hund zu ungewohnter Zeit Gassi gehen will. Ein Rotarmist in Felduniform kam herein. Krymow musterte ihn mit geübtem Blick: Alles war in Ordnung – das Koppel gerade, die saubere Kragenbinde und die Feldmütze saßen, wie es sich gehört. Aber dieser junge Soldat beschäftigte sich eben nicht mit soldatischem Handwerk.
    Krymow stand auf. Die Beine waren vom langen Sitzen auf dem Stuhl eingeschlafen und knickten bei den ersten Schritten ein. In der Toilette überlegte er fieberhaft, während der Wachmann ihn beobachtete, und auch auf dem Rückweg überlegte er fieberhaft. Er hatte Grund dazu.
    Als Krymow von der Toilette zurückkehrte, war der Untersuchungsrichter verschwunden. An seiner Stelle saß ein junger Mann in Uniform mit den rot eingefassten blauen Schulterstücken eines Hauptmanns. Der Hauptmann musterte den Häftling mürrisch, als hätte er ihn sein ganzes Leben lang gehasst.
    »Was stehst du herum?«, sagte der Hauptmann. »Setz dich, na los! Sitz gerade, du Hund, was machst du den Buckel krumm? Ich trete dir in die Eingeweide, dann wirst du dich schon aufrichten.«
    »Da hätten wir also Bekanntschaft geschlossen«, dachte Krymow, und Entsetzen packte ihn – ein Entsetzen, wie er es im Krieg nie empfunden hatte.
    »Gleich geht’s los.«
    Der Hauptmann stieß eine Rauchwolke aus, und in dem grauen Rauch sprach seine Stimme weiter: »Hier – Papier und Federhalter. Soll ich etwa für dich schreiben?«
    Es machte dem Hauptmann Spaß, Krymow zu beleidigen. Aber vielleicht war das seine Aufgabe? An der Front befiehlt man doch manchmal den Artilleristen, den Gegner unter Trommelfeuer zu halten – und sie schießen Tag und Nacht.
    »Wie sitzt du denn da? Bist du hergekommen, um zu schlafen?«
    Einige Minuten später fuhr er den Häftling erneut an: »He, hör zu, ich hab was zu dir gesagt, glaubst du, es betrifft dich nicht?«
    Er trat ans Fenster, hob die Verdunkelung hoch, löschte das Licht, und der Morgen blickte Krymow mürrisch in die Augen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Lubjanka sah er das Tageslicht.
    »Sie haben die Nachtzeit totgeschlagen«, dachte Nikolai Grigorjewitsch.
    Hatte es einen schlimmeren Morgen in seinem Leben gegeben? Hatte er wirklich vor einigen Wochen sorglos im Bombentrichter gelegen, glücklich und frei, während über seinem Kopf das Stahlgewitter tobte?
    Aber der Zeitbegriff hatte sich verschoben. Vor unendlich langer Zeit hatte er dieses Arbeitszimmer betreten, vor so kurzer Zeit war er in Stalingrad gewesen.
    Was für ein graues, steinernes Licht war draußen vor dem Fenster, das auf den Innenschacht des Inneren Gefängnisses hinausging. Es war wie Spülicht, nicht wie Licht. Noch amtlicher, finsterer, feindlicher als bei elektrischer Beleuchtung erschienen die Gegenstände in diesem winterlichen Morgenlicht.
    Nein, nicht die Stiefel waren eng geworden, sondern die Füße waren angeschwollen.
    Wie brachte man hier sein früheres Leben und seine frühere Arbeit mit der Einkesselung von 1941 in Verbindung? Wessen Finger hatten das Unvereinbare miteinander verknüpft? Wozu das alles? Wer hatte etwas davon? Wozu?
    Die Gedanken brannten so stark, dass er minutenlang die Schmerzen im Rücken und im Kreuz vergaß, nicht spürte, wie seine angeschwollenen Beine die Stiefelschäfte auseinanderdrückten.
    Hacken, Fritz … Wie konnte ich vergessen, dass ich

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