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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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kopfschüttelnd die Akte durch und sagte scheinbar zerstreut:
    »Immer … Dann ändert sich auch der Fall … ändert sich auch der Fall.«
    Er hielt Krymow ein Blatt Papier hin.
    »Lesen Sie das.« Er deckte einen Teil der Seite mit der Hand ab.
    Krymow sah das Geschriebene durch und zuckte mit den Schultern.
    »Ganz schön mies«, sagte er und schob die Seite von sich.
    »Wieso?«
    »Der Mensch hat nicht den Mut, klar zu erklären, dass Hacken ein ehrlicher Kommunist ist, und ist nicht gemein genug, ihn zu beschuldigen. Also windet er sich heraus.«
    Der Untersuchungsrichter nahm die Hand weg und zeigte Krymow die Unterschrift Krymows und das Datum: Februar 1938.
    Sie schwiegen. Dann fragte der Untersuchungsrichter streng: »Vielleicht hat man Sie geschlagen, und Sie haben deshalb solche Zeugenaussagen gemacht?«
    »Nein, man hat mich nicht geschlagen.«
    Das Gesicht des Untersuchungsrichters zerfiel erneut in Würfel, seine gereizten Augen drückten Abscheu aus, der Mund sagte: »Na also. Und als Sie eingekesselt waren, haben Sie für zwei Tage Ihre Truppe verlassen. Man hat Sie mit einem Militärflugzeug zum Stab der deutschen Heeresgruppe gebracht, und Sie haben wichtige Daten übergeben, neue Instruktionen erhalten.«
    »Totaler Unsinn«, murmelte das Subjekt mit dem geöffneten Kragen der Feldbluse.
    Aber der Untersuchungsrichter führte seinen Fall weiter. Jetzt fühlte Krymow sich nicht mehr von fortschrittlichen Ideen erfüllt, stark, scharfsinnig, bereit, für die Revolution zu sterben.
    Er fühlte sich schwach, unentschlossen, er hatte überflüssiges Zeug geschwatzt, alberne Gerüchte wiederholt, er hatte sich erlaubt, das Gefühl zu verspotten, das das sowjetische Volk für den Genossen Stalin empfand. Er war nicht wählerisch bei seinen Bekanntschaften gewesen, viele seiner Freunde waren verfolgt worden. Seine theoretischen Ansichten waren wirr. Er hatte etwas mit der Frau seines Freundes gehabt. Er hatte niederträchtige, doppelzüngige Aussagen über Hacken gemacht.
    »Bin ich das, der hier sitzt? Geschieht das alles wirklich mit mir? Es ist ein Traum, ein schöner Sommernachtstraum …«
    »Und vor dem Krieg haben Sie an das trotzkistische Zentrum im Ausland Informationen über die Stimmungen führender Funktionäre der internationalen revolutionären Bewegung weitergegeben.«
    Man brauchte kein Idiot, kein Halunke zu sein, um ein armseliges, schmutziges Subjekt des Verrats zu verdächtigen. Auch Krymow hätte an der Stelle des Untersuchungsrichters einem solchen Subjekt nicht vertraut. Er kannte den neuen Typ der Parteifunktionäre, die jene abgelöst hatten, die 1937 liquidiert oder beseitigt und aus dem Amt gedrängt worden waren. Das waren Menschen von anderem Schlag als er. Sie lasen andere Bücher und lasen sie auf andere Weise, »arbeiteten sie durch«. Sie liebten und schätzten die materiellen Segnungen des Lebens, revolutionäre Opferbereitschaft war ihnen fremd oder lag ihrem Charakter fern. Sie beherrschten keine Fremdsprachen, liebten ihr zutiefst russisches Wesen, sprachen aber ein schlechtes Russisch. Unter ihnen gab es kluge Leute, aber ihre Hauptstärke war wohl nicht der Einsatz für die Idee, nicht der Verstand, sondern beruhte auf sachlichen Fertigkeiten, List und kleinbürgerlich nüchternen Ansichten.
    Krymow sah ein, dass die neuen wie die alten Kader in der Partei durch eine große Gemeinsamkeit vereint waren, dass es nicht um den Unterschied, sondern um die Einheit, um die Gemeinsamkeiten ging. Doch er hatte stets seine Überlegenheit den neuen Leuten gegenüber gefühlt, die Überlegenheit eines Bolschewiken und Leninisten.
    Er hatte nicht bemerkt, dass seine Verbindung zu dem Untersuchungsrichter jetzt nicht mehr in seiner Bereitschaft bestand, ihn an sich herankommen zu lassen, ihn als Parteigenossen anzuerkennen. Jetzt bestand sein Wunsch nach Einheit mit dem Untersuchungsrichter in der jämmerlichen Hoffnung, dass dieser ihn, Nikolai Grigorjewitsch Krymow, an sich näher herankommen ließ und wenigstens einräumte, dass nicht nur Schlechtes, Nichtswürdiges, Unsauberes in ihm war.
    Jetzt war die feste Haltung des Untersuchungsrichters die feste Haltung eines Kommunisten, was Krymow nicht gleich gemerkt hatte.
    »Wenn Sie wirklich fähig sind, freimütig zu bereuen, wenn Sie die Partei immer noch ein wenig lieben, dann helfen Sie ihr mit Ihrem Geständnis.«
    Und plötzlich, als habe er die verzehrende Schwäche von seiner Gehirnrinde weggerissen, schrie Krymow: »Sie

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