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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und die Front durchbrochen werden, wenn Krymow auch nur für eine Minute die Augen schlösse.
    In seinem ganzen Leben hatte Krymow noch nicht so viele unflätige Flüche auf einmal gehört.
    Freunde, seine liebenswerten Helfer, seine Sekretäre, seine Partner bei offenherzigen Gesprächen hatten seine Worte und Handlungen gesammelt. Er erinnerte sich und erschrak zutiefst: Das habe ich zu Iwan gesagt, nur zu Iwan … Das war ein Gespräch mit Grischka, Grischka kenn ich doch seit 1920 … Dieses Gespräch habe ich mit Mascha Melzer geführt, ach, Mascha, Mascha.
    Plötzlich fiel ihm die Bemerkung des Untersuchungsrichters ein, dass er keine Päckchen von Jewgenia Nikolajewna erwarten solle. Darüber hatte er doch kurz zuvor in der Zelle mit Bogolejew gesprochen. Bis zum letzten Tag vervollständigte man Krymows Herbarium.
    Gegen Mittag brachte man ihm eine Schüssel Suppe. Seine Hand zitterte so, dass er den Kopf hinunterbeugen und die Suppe aus der Schüssel schlürfen musste; der Löffel klapperte, schlug einen Trommelwirbel.
    »Du isst wie ein Schwein«, sagte der Hauptmann bekümmert.
    Dann war da noch ein Ereignis: Krymow bat erneut, auf die Toilette gehen zu dürfen. Er dachte an nichts mehr, als er über den Korridor ging, nur als er am Toilettenbecken stand, dachte er: Gut, dass die Knöpfe abgetrennt worden sind, die Finger zittern so – man würde die Hose nicht auf- und nicht zukriegen.
    Wieder verging die Zeit, sie arbeitete gegen ihn. Der Staat in der Hauptmannsuniform siegte. Ein dichter grauer Nebel hatte sich im Kopf ausgebreitet – ein Nebel, wie er wohl das Gehirn eines Affen erfüllt. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, es gab keine Akte mit sich ringelnden Schnüren. Nur eines: die Stiefel ausziehen, sich kratzen, einschlafen.
    Der Untersuchungsrichter kam wieder.
    »Ein bisschen geschlafen?«, fragte ihn der Hauptmann.
    »Die Leitung schläft nicht, sondern ruht sich aus«, sagte der Untersuchungsrichter belehrend und wiederholte damit einen alten Armeewitz.
    »Richtig«, bestätigte der Hauptmann, »dafür werden die Untergebenen fett.«
    Wie ein Arbeiter, der zum Schichtwechsel kommt, seine Werkbank mustert und sachlich ein paar Worte mit seinem Vorgänger wechselt, so schaute der Untersuchungsrichter Krymow und den Schreibtisch an und sagte: »Na dann, Genosse Hauptmann.«
    Er sah auf die Uhr, holte die Akte aus dem Schreibtisch, löste die Schnüre, blätterte in den Papieren und sagte voller Interesse und frischer Kraft: »Also, Krymow, machen wir weiter.«
    Sie gingen an die Arbeit.
    Der Untersuchungsrichter interessierte sich heute für den Krieg. Und wieder waren seine Kenntnisse enorm: Er kannte Krymows Dienststellen, kannte die Nummern der Regimenter, der Armeen, nannte die Männer, die zusammen mit Krymow gekämpft hatten, erinnerte ihn an Worte, die er in der Politabteilung gesagt hatte, an eine Bemerkung über die Rechtschreibfehler in der Notiz eines Generals.
    Die ganze Frontarbeit Krymows, die Reden unter deutschem Feuer, sein Glaube, den er in den schweren Tagen des Rückzugs, der Kälte und der Entbehrungen mit den Soldaten geteilt hatte – all das existierte mit einem Schlag nicht mehr.
    Ein armseliger Schwätzer und Betrüger hatte die Moral seiner Kameraden zersetzt, sie mit Misstrauen und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit angesteckt. Ließ sich bezweifeln, dass die deutsche Aufklärung ihm geholfen hatte, die Frontlinie zu überschreiten, damit er seine Tätigkeit als Spion und Diversant fortsetzen konnte?
    In den ersten Minuten des neuen Verhörs ging der Arbeitseifer des ausgeruhten Untersuchungsrichters auf Krymow über.
    »Wie Sie wollen«, sagte er, »aber ich werde niemals zugeben, ein Spion gewesen zu sein!«
    Der Untersuchungsrichter sah aus dem Fenster. Es wurde bereits dunkel, er konnte die Papiere auf dem Tisch nur schlecht erkennen, daher knipste er die Tischlampe an und ließ die blaue Verdunkelung herunter.
    Ein finsteres, tierisches Gebrüll drang durch die Tür herein und brach plötzlich ab, verstummte.
    »Also, Krymow«, sagte der Untersuchungsrichter und setzte sich wieder an den Tisch.
    Er fragte Krymow, ob ihm bekannt sei, warum man ihn kein einziges Mal befördert habe, und hörte sich die undeutliche Antwort an.
    »Tja, Krymow, Sie trieben sich als Bataillonskommissar an der Front herum, aber Sie hätten eigentlich Mitglied des Kriegsrats, einer Armee oder sogar einer Front sein müssen.«
    Er schwieg, blickte Krymow starr an, schaute

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