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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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1938 in genau so einem Zimmer saß, freilich – nicht ganz so: In der Tasche hatte ich einen Passierschein …
    Jetzt erinnerte er sich endlich an das Niederträchtigste: an den Wunsch, allen zu gefallen – dem Mitarbeiter im Passierscheinbüro, den Wächtern, dem Liftführer in der Militäruniform. Der Untersuchungsrichter hatte gesagt: »Genosse Krymow, bitte helfen Sie uns.« Nein, das Niederträchtigste war nicht der Wunsch, allen zu gefallen. Das Niederträchtigste war der Wunsch nach Aufrichtigkeit! Oh, jetzt erinnerte er sich wieder! Nichts als Aufrichtigkeit wurde verlangt! Und er war aufrichtig gewesen, hatte sich auf die Fehler Hackens bei der Beurteilung der Spartakusbewegung besonnen, seine Missgunst Thälmann gegenüber, seinen Wunsch, ein Honorar für ein Buch zu erhalten, seine Scheidung von Elsa, als Elsa schwanger war … Allerdings hatte er sich auch an Gutes erinnert … Der Untersuchungsrichter hatte seinen Satz notiert: »Auf der Grundlage langjähriger Bekanntschaft halte ich seine Teilnahme an direkten Sabotageakten gegen die Partei für unwahrscheinlich, aber ich kann die Möglichkeit eines doppelten Spiels nicht völlig ausschließen.«
    Auch er hatte denunziert. Alles, was über ihn in dieser für alle Zeit aufzubewahrenden Akte gesammelt war, hatten seine Kameraden erzählt, die ebenfalls aufrichtig sein wollten. Warum hatte er aufrichtig sein wollen? Parteipflicht? Lüge! Alles Lüge! Wahre Aufrichtigkeit hätte allein darin bestanden, wild mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und zu schreien: »Hacken ist mein Bruder, mein Freund, er ist unschuldig!« Aber er hatte allen möglichen Unsinn im Gedächtnis zusammengekramt, Flöhe gefangen, sich bei einem Menschen eingeschmeichelt, ohne dessen Unterschrift sein Passierschein zum Verlassen des großen grauen Hauses nichts galt. Er erinnerte sich auch an das gierige, glückliche Gefühl, als der Untersuchungsrichter sagte: »Einen Augenblick bitte, ich unterschreibe Ihnen den Passierschein, Genosse Krymow.« Er hatte geholfen, Hacken ins Gefängnis zu bringen. Wohin fuhr der Wahrheitsliebende mit dem unterschriebenen Passierschein? Nicht vielleicht zu Muska Grinberg, der Frau seines Freundes? Aber alles, was er über Hacken gesagt hatte, war richtig gewesen. Doch auch alles, was hier über ihn gesagt wurde, stimmte. Er hatte tatsächlich zu Fedja Jewsejew gesagt, Stalin habe einen Minderwertigkeitskomplex, der vom Mangel an philosophischer Bildung herrühre. Ein grauenhaftes Verzeichnis von Menschen, mit denen er Umgang hatte: Nikolai Iwanowitsch, Grigori Jewsejewitsch, Lomow, Schazki, Pjatnizki, Lominadse, Rjutin, der rothaarige Schljapnikow – er war öfter bei Lew Borissowitsch in der »Akademie« gewesen – Laschewitsch, Jan Gamarnik, Luppol, er war manchmal bei dem alten Rjasanow im Institut gewesen, aus alter Freundschaft hatte er in Sibirien zweimal bei Eiche haltgemacht, und seinerzeit gab es auch Skrypnik in Kiew und Stanislaw Kossior in Charkow, nun, auch Ruth Fischer, oho … Gott sei Dank, der Untersuchungsrichter erinnerte sich nicht an das Wichtigste, denn seinerzeit war ihm Lew Dawidowitsch Trotzki gewogen gewesen …
    Durch und durch verfault, keine Frage. Weshalb eigentlich? Sie haben sich doch genauso wenig schuldig gemacht wie ich! Aber ich habe noch nicht unterschrieben. Warte, Nikolai, du wirst schon noch unterschreiben. Und wie du unterschreiben wirst, sie haben doch auch unterschrieben! Bestimmt hat man sich die größte Gemeinheit bis zum Schluss aufgehoben. Drei Tage und Nächte lassen sie einen nicht schlafen, dann beginnen sie zu prügeln. Überhaupt hat das alles sehr wenig mit Sozialismus zu tun. Wozu muss mich meine Partei vernichten? Und all die anderen? Wir haben doch die Revolution gemacht – nicht Malenkow, nicht Schdanow, nicht Schtscherbakow. Wir alle haben die Feinde der Revolution nicht geschont. Warum aber schont die Revolution uns nicht? Vielleicht, weil sie schonungslos ist … Vielleicht war es ja gar keine Revolution, was, zum Teufel, ist das denn für eine Revolution – das ist die Schwarze Hundertschaft, Pack.
    Er drosch leeres Stroh, und die Zeit verging.
    Der Schmerz im Rücken und in den Beinen zermürbte ihn. Er war todmüde. Wenn er sich jetzt nur auf die Pritsche legen, die großen Zehen bewegen, die Füße hochheben und sich die Waden kratzen könnte!
    »Nicht schlafen!«, schrie der Hauptmann, als ob er ein Kampfkommando gäbe.
    Offenbar würde der sowjetische Staat zusammenbrechen

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