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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Belehrungen: »Wir werden eine Woche so sitzen, einen Monat, ein Jahr … Es ist ganz einfach: Selbst wenn Sie überhaupt nicht schuldig sind, werden Sie alles unterschreiben, was ich Ihnen sage. Danach wird man Sie nicht mehr schlagen. Klar? Vielleicht wird Sie die Sonderkommission in Abwesenheit verurteilen, aber Sie werden nicht mehr geschlagen – das ist eine große Sache! Glauben Sie vielleicht, mir ist es angenehm, wenn Sie geschlagen werden? Wir werden Sie schlafen lassen. Klar?«
    Die Stunden vergingen, das Gespräch dauerte an. Es schien, als könne Krymow nichts mehr erschüttern und aus seiner schläfrigen Benommenheit wecken.
    »All diese Dinge liegen lange zurück, man kann sie auch vergessen«, sagte der Untersuchungsrichter und zeigte auf Krymows Aktenordner. »Aber Ihr gemeiner Landesverrat während der Schlacht um Stalingrad lässt sich nicht vergessen. Die Zeugen, die Dokumente überführen Sie! Ihre Tätigkeit zersetzte das politische Bewusstsein der Kämpfer im von den Deutschen umzingelten Haus ›sechs Strich eins‹. Sie trieben den Patrioten Grekow zum Verrat, versuchten, ihn zu überreden, auf die Seite des Gegners zu wechseln. Sie missbrauchten das Vertrauen des Kommandos, das Vertrauen der Partei, die Sie als Kriegskommissar in dieses Haus geschickt hatte. Sie gingen in dieses Haus, und was waren Sie? Ein Agent des Feindes!«
    Gegen Morgen schlug man Nikolai Grigorjewitsch erneut, und es kam ihm vor, als versinke er in warmer, schwarzer Milch. Wieder nickte der Mann mit den schmalen Schulterstücken und gab ihm eine Spritze, wobei er die Nadel mit Spiritus abrieb, und der Untersuchungsrichter sagte: »Was denn, wenn es die Medizin erlaubt.«
    Sie saßen einander gegenüber. Krymow betrachtete das ermüdete Gesicht seines Gesprächspartners und war erstaunt darüber, dass er nicht den geringsten Hass empfand – hatte er wirklich diesen Mann an der Krawatte gepackt, um ihn zu erwürgen? Wieder hatte Nikolai Grigorjewitsch das Gefühl, ihm nahezustehen. Der Tisch trennte sie nicht mehr, zwei Genossen saßen da, zwei traurige Männer.
    Plötzlich erinnerte sich Krymow an den angeschossenen Mann in der blutbefleckten Unterwäsche, der nachts aus der herbstlichen Steppe in die Sonderabteilung an der Front zurückgekehrt war.
    »Das ist auch mein Schicksal«, dachte er, »auch ich habe keine andere Zuflucht mehr. Zu spät.«
    Dann bat er, zur Toilette gehen zu dürfen, später erschien der Hauptmann vom Vortag, schob die Verdunkelung hoch, löschte das Licht und steckte sich eine Zigarette an.
    Wieder erblickte Nikolai Grigorjewitsch das düstere Tageslicht, es schien, als ginge es nicht von der Sonne, nicht vom Himmel aus, sondern von den grauen Backsteinen des Inneren Gefängnisses.
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    Die Betten waren leer – entweder hatte man die Nachbarn verlegt, oder sie schmorten beim Verhör.
    Er lag da, von den Schlägen zermalmt, völlig willenlos, mit einem besudelten Leben, mit entsetzlichen Schmerzen im Kreuz. Sie hatten ihm wohl die Nieren zertrümmert.
    In dieser bitteren Stunde, in der sein Leben vernichtet war, erfasste er die Kraft der Liebe. Die Ehefrau! Ihr allein ist ein Mensch teuer, der von eisernen Füßen zertrampelt worden ist. Er liegt im eigenen Erbrochenen, doch sie wäscht ihm die Füße, kämmt ihm das wirre Haar, blickt ihm in die verstörten Augen. Je mehr er sein Innerstes entblößt hat, je widerlicher und verachtenswerter er der Welt erscheint, umso näher, teurer ist er ihr. Sie läuft dem Lastwagen nach, sie steht Schlange auf dem Kusnezki Most, am Lagerzaun, sie will ihm unbedingt ein paar Bonbons, ein paar kleine Zwiebeln schicken, sie backt Fladen auf dem Petroleumkocher, Jahre ihres Lebens gibt sie dafür, um ihn wenigstens für eine halbe Stunde wiederzusehen.
    Nicht jede Frau, mit der du schläfst, ist deine Ehefrau.
    Und in seiner bitteren Verzweiflung hatte er den Wunsch, selbst einen anderen Menschen in Verzweiflung zu stürzen.
    Er verfasste ein paar Briefzeilen: »Als Du gehört hast, was vorgefallen ist, warst Du nicht froh darüber, dass man mich zermalmt hat, sondern dass Du mich rechtzeitig verlassen hast, und Du segnest Deinen Ratteninstinkt, der Dich dazu bewogen hat, das sinkende Schiff zu verlassen … Ich bin allein …«
    Vor seinen Augen erschien kurz das Telefon auf dem Tisch des Untersuchungsrichters … Der kräftige Stier stößt ihn in die Seiten, unter die Rippen … Der Hauptmann zieht den Vorhang auf, löscht das Licht … Es rascheln,

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