Leben und Schicksal
rascheln die Seiten der Akte … – und unter dem Rascheln begann er einzuschlafen.
Und plötzlich bohrte sich eine glühende krumme Ahle in seinen Schädel, sein Hirn schien nach verbranntem Fleisch zu stinken: Jewgenia Nikolajewna hatte ihn denunziert!
»Monumental! Monumental!« Das waren die Worte, die ihm zu morgendlicher Stunde in der Snamenka gesagt wurden, im Kabinett des Vorsitzenden des Revolutionären Kriegsrats der Republik … Der Mann mit dem Spitzbart und den blitzenden Zwickergläsern hatte Krymows Artikel gelesen und sprach einfühlsam, leise. Krymow erinnerte sich: Er hatte nur Genia gegenüber erwähnt, dass das ZK ihn aus der Komintern zurückberufen und beauftragt hatte, im Verlag für politische Literatur Bücher zu redigieren. Und nur ihr hatte er erzählt, wie Trotzki, nachdem er Krymows Artikel »Revolution und Reform – China und Indien« gelesen hatte, sagte: »Monumental.«
Keinem Menschen hatte er diese unter vier Augen gesprochenen Worte wiederholt, nur Genia kannte sie, also musste der Untersuchungsrichter sie von ihr erfahren haben. Sie hatte ihn denunziert.
Er spürte die siebzigstündige Schlaflosigkeit nicht – er hatte bereits genug geschlafen. Hatte man sie dazu gezwungen? War es nicht egal? Genossen, Michail Sidorowitsch, ich bin gestorben! Man hat mich getötet. Nicht mit einer Pistolenkugel, nicht mit der Faust, nicht mit Schlafentzug. Meine Ehefrau hat mich getötet. Ich werde Aussagen machen, ich gebe alles zu. Nur eine Bedingung: Bestätigen Sie mir, dass sie mich denunziert hat.
Er glitt von seinem Bett, trommelte mit der Faust an die Tür und schrie: »Führ mich zum Untersuchungsrichter, ich werde alles unterschreiben.«
Der Wachhabende kam und sagte: »Hören Sie mit dem Lärm auf, Sie können Aussagen machen, wenn man Sie ruft.«
Er konnte nicht allein bleiben. Es war besser, leichter, geschlagen zu werden und das Bewusstsein zu verlieren. Wenn die Medizin es erlaubt …
Er humpelte zu seiner Pritsche, und als er glaubte, er könnte die seelische Qual nicht mehr ertragen, sein Hirn würde platzen und Tausende von Splittern in sein Herz, in die Kehle, in die Augen treiben, begriff er: Genia konnte nicht denunzieren! Und er hustete, begann zu zittern.
»Verzeih mir, verzeih. Es ist mir nicht bestimmt, mit dir glücklich zu sein, ich bin schuld daran, nicht du.«
Ein wunderbares Gefühl ergriff ihn, das vielleicht zum ersten Mal einen Menschen in diesem Haus überkam, seit Dserschinski seinen Stiefel über die Schwelle gesetzt hatte.
Er erwachte. Ihm gegenüber saß der massige Katzenellenbogen mit seinem wirren Beethoven-Schopf.
Krymow lächelte ihm zu, und die niedrige, fleischige Stirn des Zellengenossen runzelte sich; Krymow begriff, dass Katzenellenbogen sein Lächeln für den Ausdruck des Wahnsinns hielt.
»Offenbar haben sie es Ihnen ganz schön gegeben«, sagte Katzenellenbogen und zeigte auf Krymows blutverschmierte Feldbluse.
»Ja, sie haben es mir ganz schön gegeben«, sagte Krymow mit schiefem Mund. »Und wie geht es Ihnen?«
»Ich habe mich im Krankenhaus erholt. Die Kameraden sind fort – Dreling hat von der Kommission noch weitere zehn Jahre bekommen, er hat also dreißig, und Bogolejew ist in eine andere Zelle verlegt worden.«
»Ah …«, sagte Krymow.
»Na, legen Sie los.«
»Ich glaube, im Kommunismus«, sagte Krymow, »wird das Staatssicherheitsministerium insgeheim alles Gute über die Menschen sammeln, jedes gute Wort. Alles, was mit Treue, Ehrlichkeit, Güte zusammenhängt, werden die Agenten am Telefon mithören, aus den Briefen herauslesen, aus offenen Gesprächen entnehmen und in die Lubjanka melden, eine Akte anlegen. Nur das Gute! Hier wird der Glaube an den Menschen gestärkt werden und nicht, wie jetzt, zerstört. Den ersten Stein habe ich gelegt. Ich glaube an den Menschen, ich habe gesiegt – den Denunziationen, der Lüge zum Trotz, ich glaube, ich glaube …«
Katzenellenbogen hörte ihm zerstreut zu und sagte: »Das ist alles richtig, so wird es sein. Es ist nur hinzuzufügen, dass man Sie, wenn ein solch strahlendes Dossier fertiggestellt ist, trotzdem hierherbringen wird, in das große Haus, wo Sie trotzdem geohrfeigt werden.«
Er sah Krymow forschend an und konnte überhaupt nicht verstehen, warum dessen erdfahles gelbes Gesicht mit den zugeschwollenen Augen und den schwarzen Blutspuren am Kinn glücklich und ruhig lächelte.
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Der Adjutant von Paulus, Oberst Adams, stand neben dem offenen Koffer. Der
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