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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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zum Bahnhof geschickt habe, um sie abzuholen. Anna Stepanowna wurde schriftlich von Dubenkow unterrichtet, dass ihr Arbeitsverhältnis wiederhergestellt sei und ihr durch den Zwangsurlaub bedingter Verdienstausfall in Absprache mit dem stellvertretenden Direktor voll erstattet werde.
    Die neuen Mitarbeiter wurden pausenlos bewirtet. Sie behaupteten lachend, dass ihre ganze Arbeit darin bestehe, von morgens bis abends von einer Sonderkantine zur anderen zu fahren und dort zu essen. Aber natürlich bestand ihre Arbeit nicht nur darin.
    Die in seinem Labor montierte Anlage stellte Strum nicht mehr ganz zufrieden. In einem Jahr, dachte er, würde sie nur noch ein schwaches Lächeln hervorrufen – wie Stephensons Dampflokomotive.
    Alles, was sich in Strums Leben ereignete, schien ganz natürlich und zugleich wider die Natur zu sein. Seine Arbeit war ja wirklich bedeutend und interessant, warum sollte man sie nicht loben? Auch Landesman war ein begabter Wissenschaftler, warum sollte er nicht im Institut beschäftigt werden? Und Anna Naumowna Weißpapier war unentbehrlich, warum sollte sie in Kasan festsitzen?
    Und doch war Strum klar: Ohne Stalins Anruf hätte kein Mensch im Institut seine hervorragenden Forschungsergebnisse gelobt, und Landesman mit all seinen Begabungen wäre arbeitslos geblieben.
    Aber Stalins Anruf war doch kein Zufall gewesen, auch nicht einfach nur eine Laune. Stalin war der Staat, und der Staat kennt keine Launen.
    Strum hatte geglaubt, die Organisationsangelegenheiten, die Einstellung neuer Mitarbeiter, die Pläne, die Bestellung neuer Apparate und die Sitzungen würden seine ganze Zeit in Anspruch nehmen. Aber die Autos fuhren schnell, die Sitzungen waren kurz, und keiner kam zu spät, seine Wünsche wurden im Nu erfüllt, und Strum konnte die kostbaren Morgenstunden immer im Labor verbringen. In diesen wichtigsten Arbeitsstunden hatte er keine Pflichten. Niemand bedrängte ihn, und er dachte über das nach, was ihn interessierte. Seine Wissenschaft blieb seine Wissenschaft. Ihm widerfuhr keinesfalls das, was dem Maler in Gogols Erzählung »Das Porträt« widerfährt.
    Seine wissenschaftlichen Interessen stellte niemand mehr in Frage, und das hatte er am meisten gefürchtet. »Ich bin wirklich frei«, wunderte er sich.
    Viktor Pawlowitsch erinnerte sich an die Kasaner Überlegungen des Ingenieurs Artelew über die Versorgung der Rüstungsfabriken mit Rohstoffen, Energie und Maschinen.
    »Klar«, dachte Viktor Pawlowitsch, »wie beim fliegenden Teppich zeigt sich gerade im Fehlen jeglicher Bürokratie der Bürokratismus besonders deutlich. Alles, was staatlichen Hauptinteressen dient, kommt per Express, denn die bürokratische Macht vereint zwei gegensätzliche Eigenschaften – sie ist fähig, jede Bewegung zu stoppen, sie kann aber auch alles ungeheuer beschleunigen, sodass fast die Schwerkraft überwunden wird.«
    Nur noch selten und voller Gleichmut erinnerte er sich jetzt an die Diskussionen in der kleinen Kasaner Wohnung; Madjarow schien ihm nicht mehr ein so wunderbarer und kluger Mensch zu sein. Jetzt musste er nicht mehr unablässig an Madjarows Schicksal denken, auch an die hartnäckige Angst Karimows vor Madjarow und Madjarows Angst vor Karimow dachte er nur noch selten.
    Alles, was ihm widerfahren war, erschien ihm nun natürlich und gesetzmäßig. Sein Leben wurde ihm zur Regel. Strum gewöhnte sich daran. Und die Ausnahme schien das Leben von gestern zu sein, dessen Gewohnheiten Strum allmählich ablegte. Stimmten die Überlegungen Artelews wirklich?
    Früher hatte es ihn gereizt, wenn er beim Betreten der Personalabteilung Dubenkows Blick auf sich gespürt hatte. Aber der entpuppte sich als ein hilfsbereiter und gutmütiger Mensch. Er rief Strum an: »Hier Dubenkow. Störe ich auch nicht, Viktor Pawlowitsch?«
    Er hatte Kowtschenko für einen hinterlistigen, bösen Intriganten gehalten, der fähig wäre, jeden zugrunde zu richten, der sich ihm in den Weg stellte, für einen Demagogen, dem der eigentliche Wert einer Arbeit gleichgültig war und der sich nur in der Welt geheimnisvoller, ungeschriebener Vorschriften bewegte. Aber jetzt legte auch er ganz andere Charakterzüge an den Tag. Kowtschenko besuchte täglich Strums Labor, war zugänglich, scherzte mit Anna Naumowna und benahm sich wie ein vorbildlicher Demokrat; er reichte jedem die Hand, unterhielt sich mit den Schlossern und Mechanikern, erzählte, dass er in seiner Jugend selbst als Dreher in einer Werkhalle gearbeitet

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