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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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zerrissenen Fotos vernichtet wurden. Er beeilte sich. Ihm wurde davon leichter ums Herz, er hatte das Gefühl, dass er sie mit einem Ruck aus sich herausriss, zertrampelte, sich von der Hexe befreite.
    Er hatte ja bisher ohne sie gelebt, er würde es schon verkraften! In einem Jahr ginge er an ihr vorbei, und sein Herz bliebe ganz ruhig. Schluss, aus! »Ich brauche dich wie ein Säufer den Korken!« Kaum hatte er das gedacht, spürte er die Sinnlosigkeit seiner Hoffnung. Aus dem Herzen konnte man nichts herausreißen, es war nicht aus Papier; das Leben wurde darin nicht mit Tinte aufgezeichnet, man konnte es nicht zerfetzen, die langen Jahre, die sich Gehirn und Seele eingeprägt hatten, ließen sich nicht so einfach entfernen.
    Er hatte sie an seiner Arbeit, seinem Unglück, seinen Gedanken beteiligt, sie war Zeugin seiner Schwäche und Stärke …
    Die zerrissenen Briefe verschwanden nicht, die tausendmal gelesenen Worte blieben im Gedächtnis, und ihre Augen schauten ihn nach wie vor von den zerfetzten Fotos an.
    Er öffnete den Schrank, füllte ein Wodkaglas bis zum Rand, trank aus, steckte sich eine Zigarette an, zündete sie noch einmal an, obwohl sie schon längst brannte. Sein Kopf sauste vor Kummer, sein Inneres brannte.
    Und wieder fragte er laut: »Genia, Kleines, Liebes, was hast du getan, wie konntest du das nur tun?«
    Er packte die Papierfetzen in den Koffer, stellte die Wodkaflasche in den Schrank zurück und dachte: »Der Wodka macht es ein wenig erträglicher.«
    Bald würden die Panzer in den Donbass vorrücken, er würde in sein Heimatdorf kommen und den Platz finden, wo seine Eltern begraben lagen. Sollte der Vater auf seinen Petka stolz sein und die Mutter ihren kummervollen Sohn bemitleiden. Der Krieg würde zu Ende gehen, er zöge zu seinem Bruder, lebte in seiner Familie, und seine Nichte würde ihn fragen: »Onkel Petja, warum schweigst du immerzu?«
    Plötzlich erinnerte er sich an seine Kindheit, erinnerte sich, wie ihr zottiger Hund sich einmal mit einer Hundemeute gebalgt hatte und zurückkam mit ausgerauftem Fell, abgebissenem Ohr, Beulen am Kopf, ein Auge war zugeschwollen und die Schnauze stand schief, wie der Hund mit traurig gesenktem Schwanz vor der Haustür stand, wie ihn der Vater anschaute und dann gutmütig fragte: »Na, hat es dich erwischt?«
    Ja, erwischt …
    Werschkow kam ins Zimmer.
    »Ruhen Sie sich aus, Genosse Oberst?«
    »Ja, kurz.«
    Er schaute auf die Uhr und dachte: »Bis morgen sieben Uhr den Vorstoß anhalten. Befehl chiffriert funken.«
    »Ich fahre wieder zu den Brigaden«, sagte er zu Werschkow.
    Die schnelle Fahrt lenkte ihn ein wenig ab. Der Fahrer ließ den Jeep mit achtzig Stundenkilometern dahinrasen, die Straße war schlecht, der Wagen hüpfte, schleuderte, bebte.
    Jedes Mal erschrak der Fahrer, sah Nowikow kläglich an, bat um Erlaubnis, die Geschwindigkeit zu senken.
    Nowikow erreichte den Stab der Panzerbrigade. Wie sich alles in diesen wenigen Stunden verändert hatte! Wie sich Makarow verändert hatte, als hätten sie einander mehrere Jahre nicht gesehen.
    Makarow vergaß die militärischen Vorschriften, breitete verlegen die Arme aus und sagte:
    »Genosse Oberst, soeben hat Getmanow einen Befehl des Oberbefehlshabers der Front durchgegeben: keinen Rasttag einlegen, die Offensive wird fortgesetzt.«
    52
    Drei Wochen später wurde das Panzerkorps von Nowikow in die Frontreserve verlegt – das Korps musste seinen Mannschaftsbestand wieder auffüllen, das Gerät musste repariert werden. Menschen und Panzer waren müde, nachdem sie vierhundert Kilometer im Kampf zurückgelegt hatten.
    Mit dem Befehl über den Rückzug in die Reserve war zugleich die Anordnung eingetroffen, Oberst Nowikow solle nach Moskau kommen, zum Generalstab und in die Hauptverwaltung der höheren Kommandeurskader, und es war nicht ganz klar, ob er wieder zum Korps zurückkehren würde.
    Für die Zeit seiner Abwesenheit wurde das Kommando Generalleutnant Neudobnow übergeben. Einige Tage zuvor hatte Brigadekommissar Getmanow die Benachrichtigung erhalten, das ZK der Partei habe beschlossen, ihn in nächster Zeit aus den Kadern abzuberufen – er sollte als Sekretär eines Gebietskomitees in einem der befreiten Gebiete des Donbass tätig werden; dieser Tätigkeit maß das ZK besondere Bedeutung bei.
    Der Befehl über Oberst Nowikows Vorladung nach Moskau löste beim Frontstab und bei der Verwaltung der Panzertruppen Gerüchte aus.
    Die einen sagten, die Vorladung bedeute gar nichts,

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