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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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selbst machen, das vergangene Leben ist stärker als ich, ich kann es weder töten noch vergessen … Sei mir bitte nicht böse, nicht weil ich unschuldig bin, sondern weil keiner von uns beiden, weder du noch ich, weiß, worin meine Schuld besteht. Verzeih mir, verzeih, ich weine um uns beide.«
    Sie weint! Er wurde wild. Dieses Miststück, Schlange! Der sollte man in die Fresse hauen, in die Augen, das Nasenbein mit dem Revolvergriff brechen …
    Und genauso plötzlich und unerträglich kam die Hilflosigkeit, der Gedanke, dass keine Macht auf der Welt ihm helfen könne, nur sie, Genia. Aber sie war es ja auch, die ihn vernichtete.
    Er drehte das Gesicht in die Richtung, aus der sie kommen musste, und sagte:
    »Genia, Liebes, was machst du nur mit mir, Genia, sieh mich an, sieh, was mit mir geschieht …«
    Er streckte ihr die Arme entgegen.
    Dann dachte er: Wozu das alles, ich habe so viele hoffnungslose Jahre gewartet, aber wenn sie sich nun entschieden hat, sie ist ja kein junges Mädchen mehr, wenn sie Jahre gezögert und sich nun entschieden hat … Das sollte man doch verstehen, sie hat sich doch entschieden …
    Sekunden später suchte er erneut im Hass nach Rettung: Ja, natürlich, sie wollte mich nicht, solange ich irgendein Major war, solange ich mich in den Hügeln herumtrieb, in Nikolsk-Ussurisk; sie entschied sich, als ich aufstieg, wollte Frau General werden … Ihr Weiber seid doch alle gleich. Er sah die Absurdität dieser Gedanken sofort ein – leichter wäre es, wenn das wahr wäre. Sie geht fort, kehrt zurück zu einem Mann, dessen Weg nach Kolyma, in die Lager führen wird, was gewinnt sie denn dabei … Russische Frauen, Nekrassows Verse … Mich liebt sie nicht, ihn liebt sie … Nein, sie liebt ihn nicht, er tut ihr leid, einfach leid. Und ich, ich tue ihr nicht leid? Mir geht es jetzt schlechter als allen anderen zusammen, als allen, die in der Lubjanka sitzen, in den Lagern malochen, in den Lazaretten mit abgerissenen Armen und Beinen liegen … Ich würde keinen Augenblick zögern, ich wäre sofort bereit, ins Lager zu gehen, wen würdest du dann wählen? Ihn! Sie sind beide vom selben Schlag, und ich bin für sie ein Fremder, so hat sie mich auch genannt: Fremder, Fremder … Sicher, selbst als Marschall bliebe ich ein Bauer, ein Kumpel, kein Intelligenzler, verstehe nichts von ihrer Scheißmalerei … Laut, hasserfüllt fragte er: »Wozu denn, warum?«
    Er zog den Revolver aus der Gesäßtasche, wog ihn in der Hand. »Ich werde mich erschießen, nicht, weil ich nicht leben kann, sondern damit du dich dein Leben lang quälst, du Nutte, damit dir dein Gewissen keine Ruhe lässt.«
    Dann steckte er den Revolver zurück.
    »In einer Woche wird sie mich vergessen haben.«
    Er sollte selbst alles vergessen, sich nicht erinnern, nicht zurückblicken !
    Er ging zum Tisch, las den Brief noch einmal durch. »Mein Armer, Lieber, Guter …« Nicht die grausamen, sondern die zärtlichen, mitleidigen, erniedrigenden Worte waren schlimm. Sie machten alles noch unerträglicher, nahmen ihm den Atem.
    Er hatte ihre Brüste, Schultern, Knie gesehen. Und da wird sie nun zu ihrem erbärmlichen Krymow fahren. »Ich kann nichts dagegen machen.« Unterwegs wird es eng und stickig sein, man wird sie fragen, wohin sie fährt. »Zu meinem Mann«, wird sie sagen, mit sanften, unterwürfigen Hundeaugen.
    Aus diesem Fenster hatte er geschaut, ob sie wohl bald käme. Seine Schultern begannen zu zittern, er atmete schwer, keuchte, bellte, unterdrückte das Schluchzen. Ihm fiel ein, dass er befohlen hatte, aus der Marketenderei Schokolade für sie mitzubringen, auch Nougat, und dass er Werschkow den Kopf abzureißen gedroht hatte, wenn er die Sachen anrühren sollte.
    Wieder murmelte er: »Siehst du, meine Liebe, mein Traum, was du mit mir machst, schone mich doch ein bisschen!«
    Er zog rasch den Koffer unter dem Bett hervor und holte die Briefe und Fotos von Jewgenia Nikolajewna heraus, alle, die er so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte, auch das Foto, das sie ihm im vorigen Brief geschickte hatte, und das allererste, sorgfältig in Zellophanpapier gehüllte Passfoto. Er zerriss alles mit seinen großen, starken Fingern. Er zerfetzte ihre Briefe und erkannte in den vor seinen Augen schwirrenden Zeilen und Satzfragmenten auf einem Papierschnipsel die immer wieder gelesenen Worte, die ihn fast verrückt gemacht hatten, sah zu, wie ihr Gesicht allmählich verschwand, wie die Lippen, die Augen und der Hals auf den

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