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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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verfrorenes Gesicht zu; eindringlich und bittend sah sie Viktor Pawlowitsch an.
    Sie hatten einmal eine junge Katze gehabt, die bei ihrer ersten Niederkunft das Junge nicht hatte gebären können; sterbend war sie zu Strum gekrochen, hatte geschrien und ihn mit weit aufgerissenen, hellen Augen angesehen. Doch wen sollte man bitten, zu wem sollte man beten an diesem riesigen, leeren Himmel, auf dieser erbarmungslosen, staubigen Erde?
    »Da ist das Krankenhaus, in dem ich gearbeitet habe«, sagte sie.
    »Ljuda«, sagte er plötzlich, »geh ins Krankenhaus. Da können sie dir sicher die Feldpostnummer dechiffrieren. Warum ist mir das nicht früher eingefallen!«
    Er sah zu, wie Ljudmila Nikolajewna die Stufen hinaufstieg und mit dem Pförtner verhandelte.
    Strum ging um die Ecke und kehrte wieder zur Krankenhauseinfahrt zurück. Passanten liefen mit Einkaufsnetzen an ihm vorüber, manche hatten auch Einmachgläser dabei, in denen graue Makkaroni und Kartoffeln in einer grauen Suppe schwammen.
    »Vitja«, rief seine Frau.
    An ihrer Stimme merkte er, dass sie sich beherrschte.
    »Also«, sagte sie, »er ist in Saratow. Wir fanden heraus, dass der stellvertretende Chefarzt vor kurzem dort gewesen war. Er hat mir die Straße und die Hausnummer aufgeschrieben.«
    Sogleich stellte sich eine Menge Fragen und Aufgaben: Wann ging ein Schiff, wie kam man an eine Fahrkarte? Man musste Kleider und Lebensmittel beschaffen, Geld besorgen, die Genehmigung für eine Dienstreise ergattern.
    Ljudmila Nikolajewna fuhr ohne Kleider und Lebensmittel ab und fast ohne Geld. Sie ging, ohne eine Fahrkarte zu besitzen, in dem allgemeinen hastigen Gedränge, das bei der Einschiffung entstanden war, an Deck.
    Sie nahm nur die Erinnerung an den Abschied von ihrer Mutter, von ihrem Mann und von Nadja an dem dunklen Herbstabend mit. Schwarze Wellen rauschten an den Bordwänden entlang. Ein niedrig wehender Wind peitschte, heulte, riss Spritzer von Flusswasser mit sich fort.
    21
    Dementi Trifonowitsch Getmanow, Sekretär des Gebietskomitees eines von den Deutschen besetzten Teils der Ukraine, war zum Kommissar eines Panzerkorps ernannt worden, das im Ural aufgestellt wurde.
    Bevor er sich an seinen Bestimmungsort begab, flog er in einer »Douglas« nach Ufa; dorthin war seine Frau mit den Kindern evakuiert worden.
    Die Genossen in Ufa hatten sich seiner Familie angenommen: Man konnte, was die alltäglichen Bedürfnisse und die Unterkunft betraf, einigermaßen zufrieden sein. Getmanows Frau, Galina Terentjewna, schon vor dem Krieg von auffallender Körperfülle – eine Folge ihres mangelhaften Stoffwechsels –, war während der Evakuierung nicht schmaler geworden, sie schien sogar sichtlich erholt. Auch die beiden Töchter und der noch nicht schulpflichtige Sohn sahen gesund aus.
    Getmanow blieb fünf Tage in Ufa. Der Abschied am Abend vor seiner Abreise fand in kleinem Kreis statt. Nikolai Terentjewitsch war eingeladen, der jüngste Bruder seiner Frau, er war stellvertretender Sekretär beim Rat der Volkskommissare der Ukraine, Maschtschuk, ein alter Kamerad Dementi Getmanows, er bekleidete ein hohes Amt bei den Kiewer Sicherheitsorganen, und Sagaidak, ein leitender Funktionär der Propagandaabteilung des Ukrainischen Zentralkomitees, der mit Galina Terentjewnas Schwester verheiratet war.
    Sagaidak kam erst nach zehn, die Kinder schliefen schon, und das Gespräch wurde halblaut geführt.
    Getmanow sagte: »Wie wär’s mit einem Schluck Moskauer Gorilka, Genossen?«
    Alles an Getmanow war mächtig: das ergrauende, zottige Haupt, die breite, gewölbte Stirn, die fleischige Nase, die Hände, die Finger, die Schultern, der kräftige Hals. Der ganze Mann aber, Summe dieser massigen Körperteile, war von kleinem Wuchs. Und merkwürdigerweise waren es die kleinen Augen in seinem großen Gesicht, die den Blick auf sich zogen und im Gedächtnis haftenblieben. Sie waren schmal, kaum sichtbar hinter den geschwollenen Lidern und von unbestimmter Farbe, man konnte nicht sagen, ob das Grau oder das Blau darin überwog. Aber ein lebhafter und durchdringender Verstand sprach aus diesen Augen.
    Galina Terentjewna erhob mühelos ihren schweren Körper und verließ das Zimmer. Die Männer verstummten. Minuten des Schweigens vergingen, wie das oft vorkommt – bei Bauern ebenso wie bei Städtern –, wenn man darauf wartet, dass der Wein gebracht wird. Schon bald kam Galina Terentjewna mit einem Tablett zurück. Es war erstaunlich, wie ihre dicken Hände es

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