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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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… Aber ich bin doch Physiker, Mathematiker, Theoretiker, manche halten mich für schizophren, so abstrakt sind die Gebiete, auf denen ich tätig bin. Ich bin behindert, solche Menschen sollte man lieber in Ruhe lassen, ich verstehe nichts von diesen Dingen …«
    »Lassen Sie doch, Viktor Pawlowitsch … Sie kennen sich hervorragend in politischen Fragen aus, Sie verfügen über eine ausgezeichnete Logik. Erinnern Sie sich, wie oft und wie scharfsinnig Sie über politische Themen gesprochen haben …«
    »Aber, mein Gott! Verstehen Sie doch, ich habe ein Gewissen, es schmerzt mich, es fällt mir schwer, ich bin auch nicht verpflichtet, warum sollte ich denn unterschreiben, es quält mich so, geben Sie mir doch das Recht auf ein ruhiges Gewissen …«
    Und sofort war wieder diese Kraftlosigkeit da, diese Magnetisiertheit, dieses gehorsame Gefühl eines gemästeten, verwöhnten Viehs, die Angst vor dem erneuten Ruin, die Angst vor einer erneuten Angst …
    Und wozu das? Sollte er sich wieder dem Kollektiv entgegenstellen? Wieder Einsamkeit? Es war Zeit, das Leben ernst zu nehmen. Er hatte bekommen, wovon er nicht einmal zu träumen gewagt hatte; widmete sich frei seiner Arbeit, war von Aufmerksamkeit und Fürsorge umgeben. Er hatte doch um nichts gebeten, hatte keine Reueerklärung abgegeben. Er war der Sieger! Was wollte er denn noch? Stalin hatte ihn angerufen!
    »Genossen, das alles ist so ernst, dass ich es mir noch überlegen möchte, gestatten Sie mir, meine Entscheidung auf morgen zu verschieben …«
    Sofort stellte er sich die schlaflose, qualvolle Nacht vor, die Unschlüssigkeit, die Schwankungen, die plötzliche Entschlossenheit und die Angst vor dieser Entschlossenheit, wieder die Unschlüssigkeit und wieder ein Entschluss. Das alles zermürbt einen wie ein böses, gnadenloses Sumpffieber. Sollte er diese Folter selbst noch um Stunden verlängern? Dazu hatte er keine Kraft. Schnell, schnell, schnell …
    Er zog den Füller heraus.
    Da sah er, dass Schischakow ihn verdutzt anschaute. Der Unnachgiebigste war heute nachgiebig.
    Strum konnte den ganzen Tag nicht arbeiten. Niemand lenkte ihn ab, das Telefon klingelte nicht. Er konnte nicht, weil ihm die Arbeit an diesem Tag langweilig, nutzlos und uninteressant erschien.
    Wer hatte den Brief noch unterschrieben? Tschepyschin? Ioffe? Und Krylow? Mandelstam? Er hätte sich gerne hinter irgendjemands Rücken versteckt. Aber es wäre doch unmöglich gewesen, abzulehnen. Das wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Ganz und gar nicht. Er hätte auch ablehnen können. Nein, nein, er hatte schon richtig gehandelt. Aber niemand hatte ihn bedroht. Es wäre ihm vielleicht leichter, wenn er aus einem Gefühl tierischer Angst heraus unterschrieben hätte. Aber er hatte ja nicht aus Angst unterschrieben. Es war ein quälendes, Brechreiz verursachendes Gefühl der Unterwürfigkeit gewesen.
    Strum rief Anna Stepanowna in sein Arbeitszimmer, bat sie, für morgen einen Film zu entwickeln – eine Kontrollserie der mit der neuen Anlage durchgeführten Experimente.
    Sie notierte alles und blieb sitzen.
    Er schaute sie fragend an.
    »Viktor Pawlowitsch«, sagte sie, »ich dachte früher, dass man es mit Worten nicht ausdrücken kann, aber jetzt will ich es tun: Verstehen Sie, was Sie für mich und all die anderen getan haben? Das ist für die Menschen wichtiger als die größten Entdeckungen. Allein der Gedanke, dass Sie auf der Welt sind, ist Balsam fürs Herz. Wissen Sie, was die Schlosser, die Putzfrauen und Wächter über Sie sagen? Sie sagen: Das ist ein redlicher Mensch. Ich wollte Sie schon oft zu Hause besuchen, hatte aber Angst. Verstehen Sie, als ich an den schwersten Tagen an Sie dachte, wurde mir leichter, besser. Ich danke Ihnen dafür, dass es Sie gibt. Sie sind ein Mensch.«
    Strum konnte ihr darauf nichts erwidern, so schnell verließ sie sein Zimmer. Er wäre am liebsten auf die Straße gerannt und hätte geschrien, nur um diese Qual, diese brennende Scham loszuwerden. Aber das war noch nicht alles, es war nur der Anfang.
    Gegen Abend läutete das Telefon.
    »Erkennen Sie mich?«
    Mein Gott, und ob … Nicht nur mit dem Ohr, auch mit den kaltgewordenen Fingern, die den Hörer hielten, erkannte er ihre Stimme. Wieder kam Marja Iwanowna in einem schweren Augenblick seines Lebens zu ihm.
    »Ich rufe Sie von einem öffentlichen Fernsprecher aus an, ich höre Sie schlecht«, sagte Mascha. »Pjotr Lawrentjewitsch geht es besser, ich habe jetzt mehr Zeit. Wenn Sie

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