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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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können, dann kommen Sie bitte morgen in die Grünanlage, um acht …« Und plötzlich brach es aus ihr heraus: »Mein Geliebter, mein Bester, Licht meines Lebens. Ich habe Angst um Sie. Man kam zu uns wegen dieses Briefes. Sie wissen doch, wovon ich rede? Ich bin sicher, dass Sie es waren, dass Ihre Kraft es war, die Pjotr Lawrentjewitsch geholfen hat, durchzuhalten. Bei uns ist alles gutgegangen. Ich habe mir sofort vorgestellt, wie Sie sich bei dieser Sache wieder selbst geschadet haben. Sie sind doch ein so kantiger Mensch: Wo andere sich nur stoßen, da schlagen Sie sich blutig.«
    Er legte den Hörer auf und schlug die Hände vors Gesicht.
    Er verstand das Entsetzliche seiner Lage: Nicht seine Feinde richteten ihn heute hin, sondern die Allernächsten – mit ihrem Glauben an ihn.
    Zu Hause rief er Tschepyschin an, ohne den Mantel abgelegt zu haben. Ljudmila Nikolajewna stand vor ihm, er wählte Tschepyschins Nummer und war felsenfest überzeugt, dass ihm auch sein Freund und Lehrer, der ihn liebte, gleich eine brennende Wunde zufügen würde. Er hatte es eilig, hatte Ljudmila noch nicht einmal gesagt, dass er den Brief unterzeichnet hatte. Mein Gott, wie grau Ljudmilas Haar schon war. Ja, ja, bist ein toller Kerl, mach dich nur über die Grauhaarigen lustig!
    »Es gibt viel Gutes, Sie haben gewiss die Nachrichten von der Front gelesen«, sagte Tschepyschin. »Nur bei mir passiert nichts. Höchstens, dass ich mich heute mit einigen ehrenwerten Leuten gestritten habe. Haben Sie von einem gewissen Brief gehört?«
    Strum fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und antwortete: »Ja.«
    »Gut. Ich verstehe, dass ist kein Thema fürs Telefon. Nach Ihrer Rückkehr würde ich bei Gelegenheit gern mit Ihnen darüber reden«, sagte Tschepyschin.
    Na, das war glimpflich abgegangen, aber Nadja würde bald nach Hause kommen. Mein Gott, was hatte er nur getan …
    56
    In der Nacht konnte Strum nicht schlafen. Er hatte Herzschmerzen. Woher kam diese entsetzliche Beklemmung? Diese Schwere, diese Last. Der Sieger!
    Als er sich vor der Sachbearbeiterin in der Hausverwaltung gefürchtet hatte, war er stärker und freier gewesen als jetzt. Heute hatte er nicht einmal den Mut gehabt, zu diskutieren, Zweifel anzumelden. Stark geworden, hatte er seine innere Freiheit verloren. Wie sollte er Tschepyschin in die Augen sehen? Aber vielleicht würde er es mit der gleichen Gelassenheit tun wie seine Mitarbeiter, die ihn am Tag seiner Rückkehr ins Institut heiter und gutmütig begrüßt hatten?
    Alles, woran er sich in dieser Nacht erinnerte, verletzte ihn, quälte ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Sein Lächeln, seine Gesten, sein Handeln waren ihm fremd, richteten sich feindselig gegen ihn selbst. Nadjas Augen hatten heute Abend nur Mitleid und Abscheu ausgedrückt.
    Nur Ljudmila, die ihn sonst ständig reizte und ihm widersprach, hörte sich seine Geschichte an und sagte plötzlich: »Vitjenka, gräm dich nicht. Für mich bist du der klügste und ehrlichste Mensch. Wenn du so gehandelt hast, dann musstest du so handeln.«
    Woher kam denn dieser Wunsch, alles zu rechtfertigen? Warum hatte er heute ertragen können, was ihm noch vor kurzem unerträglich war? Gleichgültig, worüber man mit ihm sprach, er zeigte sich optimistisch.
    Die militärischen Siege fielen mit dem Umbruch in seinem persönlichen Schicksal zusammen. Er sah die Macht der Armee, die Größe des Staates, das Licht vor sich. Warum erschienen ihm Madjarows Gedanken heute so flach?
    An dem Tag, als man ihn aus dem Institut hinausgeworfen hatte und er nicht hatte bereuen wollen, war ihm leicht und hell ums Herz gewesen. Und was für ein Glück für ihn waren in jenen Tagen seine Nächsten gewesen: Ljudmila, Nadja, Tschepyschin, Genia … Und das Treffen mit Marja Iwanowna, was würde er ihr sagen? Er war doch immer so überheblich gewesen, wenn es um Pjotr Lawrentjewitschs Unterwürfigkeit und Gehorsam ging. Und heute? Er hatte Angst, an seine Mutter zu denken; er hatte sich vor ihr versündigt. Er schämte sich, ihren letzten Brief in die Hand zu nehmen. Entsetzt und traurig begriff er, dass er nicht imstande war, seine Seele zu schützen und abzuschirmen. In ihm war eine Kraft stark geworden, die ihn in einen Sklaven verwandelte.
    Er hatte eine Gemeinheit begangen! Er, ein Mensch, hatte einen Stein auf elende, blutende, ohnmächtige Menschen geworfen.
    Der Schmerz, der ihm das Herz zusammenpresste, ließ Schweiß auf seine Stirn treten.
    Woher hatte er diese

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