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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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erreichten, in dem der Mensch weder Gerechtigkeit noch Freiheit, nicht einmal mehr Ruhe will, sondern nur noch, dass man ihn von seinem verhasst gewordenen Leben befreit.
    In der Einheit von Körper und Seele des Menschen lag fast immer der Schlüssel zum Sieg der Untersuchungsrichter. Seele und Körper sind kommunizierende Gefäße, und wenn der Angreifer die physische Abwehr des Menschen durchbricht und zerstört, entsteht eine Bresche, durch die er mit Erfolg eindringen kann, durch die er Gewalt über die Seele gewinnt und den Menschen zur bedingungslosen Kapitulation zwingt.
    Krymow hatte nicht die Kraft, über all das nachzudenken, aber ebenso wenig konnte er darüber nicht nachdenken.
    Wer hatte ihn nur angezeigt? Wer hatte ihn denunziert? Wer hatte ihn verleumdet? Er spürte, dass ihn diese Frage jetzt kaum noch interessierte.
    Er war immer stolz darauf gewesen, dass er sein Leben der Logik unterordnen konnte. Aber nun war es anders. Die Logik sagte, dass die Information über sein Gespräch mit Trotzki von Jewgenia Nikolajewna kam. Doch sein ganzes jetziges Leben, sein Kampf mit dem Untersuchungsrichter, seine Fähigkeit zu atmen, Genosse Krymow zu bleiben, gründete sich auf den Glauben, dass Genia so etwas nicht getan haben konnte. Er wunderte sich, wie er diese Überzeugung für ein paar Augenblicke hatte verlieren können. Es gab keine Macht, die ihn dazu zwingen konnte, nicht an Genia zu glauben. Er glaubte an sie, obwohl er wusste, dass niemand außer Jewgenia Nikolajewna von seinem Gespräch mit Trotzki Kenntnis hatte. Obwohl er wusste, dass Frauen verraten, dass Frauen schwach sind, obwohl er wusste, dass Genia ihn verlassen und in einer schweren Phase seines Lebens im Stich gelassen hatte.
    Er hatte Katzenellenbogen von dem Verhör berichtet, aber von dieser Geschichte kein Wort gesagt.
    Katzenellenbogen alberte jetzt nicht herum, riss keine Witze. Krymow hatte sich nicht in ihm getäuscht. Er war klug. Aber alles, was er sagte, war schaurig und grausig. Manchmal hatte Krymow den Eindruck, es wäre nichts Ungerechtes daran, dass der alte Tschekist im Inneren Gefängnis einsaß. Es war nur folgerichtig. Manchmal hielt Krymow ihn für einen Wahnsinnigen.
    Er war der Dichter, der Sänger der Staatssicherheitsorgane.
    Er erzählte Krymow mit Begeisterung, wie Stalin auf dem letzten Parteitag während einer Pause Jeschow gefragt habe, warum er die Auswüchse in der Strafverfolgungspolitik nicht unterbunden habe, und als der verwirrte Jeschow antwortete, er habe die direkten Befehle Stalins ausgeführt, da habe der Führer zu den ihn umstehenden Delegierten traurig gesagt: »Und das sagt ein Mitglied der Partei.«
    Er erzählte von dem Entsetzen, das Jagoda gepackt hatte …
    Er erinnerte sich an die großen Tschekisten, die Verehrer von Voltaire, die Kenner von Rabelais, die Anhänger von Verlaine, die einst die Arbeit in dem großen, schlaflosen Haus geleitet hatten.
    Er erzählte von dem altgedienten Moskauer Henker, einem freundlichen, stillen alten Letten, der, wenn er eine Hinrichtung vollzog, um die Erlaubnis bat, die Kleidung des Hingerichteten an ein Waisenhaus geben zu dürfen. Und er erzählte von einem anderen Urteilsvollstrecker – der trank Tag und Nacht, war schwermütig, wenn er nichts zu tun hatte, und als er entlassen wurde, fuhr er auf die Sowchosen in der Umgebung von Moskau, schlachtete dort Schweine und hatte immer eine Flasche Schweineblut dabei – er sagte, der Arzt habe ihm gegen seine Blutarmut Schweineblut verschrieben.
    Er erzählte, wie 1937 jede Nacht Hunderte von Verurteilten zur Exekution gebracht wurden, die kein Recht auf Briefwechsel hatten, wie nachts die Schornsteine des Moskauer Krematoriums geraucht hatten; er berichtete, wie die Komsomolzen, die zur Vollstreckung der Urteile und zum Abtransport der Leichen eingezogen worden waren, den Verstand verloren.
    Er erzählte von dem Verhör Bucharins, von der Starrköpfigkeit Kamenews. Einmal redeten sie miteinander die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen.
    In dieser Nacht entwickelte der Tschekist eine Theorie und verallgemeinerte sie.
    Katzenellenbogen erzählte Krymow von dem erstaunlichen Schicksal des Ingenieurs Frenkel. Zu Beginn derNEP 3 hatte Frenkel in Odessa ein Motorenwerk errichtet. Mitte der zwanziger Jahre war er verhaftet und nach Solowki verbannt worden. Während er in Solowki im Lager saß, schlug er Stalin ein geniales Projekt vor – der alte Tschekist benutzte ebendieses Wort: »genial«.
    Das Projekt

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