Leben und Schicksal
innere Überzeugung gehabt, wer hatte ihm das Recht gegeben, vor anderen mit seiner Reinheit und seinem Mut zu prahlen, sich zum Richter über Menschen aufzuschwingen und ihnen keine Schwächen zu verzeihen? Der wahrhaft Starke ist nicht hochmütig.
Es gibt Schwache und Sünder, und es gibt Gerechte. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass ein nichtswürdiger Mensch sich nach einer guten Tat sein Leben lang damit brüstet, während ein Gerechter die guten Taten, die er begeht, gar nicht bemerkt, sich aber jahrelang an eine von ihm begangene Sünde erinnert.
Und er, er war stolz auf seinen Mut, seine Geradlinigkeit und verlachte alle, die Schwäche und Furchtsamkeit zeigten. Und nun hatte auch er andere Mitmenschen verraten. Er verachtete sich, schämte sich seiner selbst. Das Haus, in dem er wohnte, sein Licht, seine Wärme – alles hatte sich in Späne verwandelt, in rieselnden, trockenen Sand.
Seine Freundschaft mit Tschepyschin, die Liebe zu seiner Tochter, die Verbundenheit mit seiner Frau, seine hoffnungslose Liebe zu Marja Iwanowna, seine menschliche Sünde und sein menschliches Glück, seine Arbeit, seine wunderbare Wissenschaft, die Liebe zu seiner Mutter und seine Trauer um sie – nichts davon war mehr in seiner Seele.
Weswegen hatte er diese furchtbare Sünde begangen? Alles auf der Welt war nichtig im Vergleich zu dem, was er verloren hatte. Alles war nichtig im Vergleich zur Wahrheit, zur Reinheit des kleinen Mannes, auch das Reich, das sich vom Stillen Ozean bis zum Schwarzen Meer erstreckte, auch die Wissenschaft.
Und mit aller Klarheit erkannte er, dass es noch nicht zu spät war, dass er noch die Kraft besaß, den Kopf zu erheben und der Sohn seiner Mutter zu bleiben.
Er würde für sich keine Tröstungen, keine Rechtfertigungen suchen. Das Schlechte, das Erbärmliche, das Niederträchtige, das er getan hatte, sollte ihm immer ein Vorwurf sein, das ganze Leben lang: Tag und Nacht sollte es ihm gewärtig bleiben. Nein, nein, nein! Nicht nach Heldentaten soll man streben, um auf sie stolz zu sein und mit ihnen zu prahlen.
Jeden Tag, jede Stunde, jahraus, jahrein muss man für sein Recht kämpfen, Mensch zu sein, ein guter, reiner Mensch. In diesem Kampf darf es weder Stolz noch Ehrgeiz geben, sondern allein Demut. Und wenn in einer schrecklichen Zeit eine ausweglose Stunde kommt, darf der Mensch den Tod nicht fürchten, darf keine Angst haben, wenn er ein Mensch bleiben will.
»Na ja, wir werden sehen«, sagte er. »Vielleicht habe ich genug Kraft, deine Kraft, Mutter!«
57
Abende auf dem Vorwerk bei der Lubjanka… 2
Nach den Verhören lag Krymow auf der Pritsche, stöhnte, dachte nach, sprach mit Katzenellenbogen.
Jetzt kamen ihm Bucharins, Rykows, Kamenews und Sinowjews wahnwitzige Geständnisse nicht mehr unwahrscheinlich vor, auch nicht der Prozess gegen die Trotzkisten und Angehörigen der pseudoradikalen Zentren, das Schicksal Bubnows, Muralows und Schljapnikows. Vom lebendigen Leib der Revolution hatten sie die Haut abgezogen, eine neue Zeit wollte sich mit ihr schmücken, während das blutige, lebendige Fleisch und die noch dampfenden Innereien der proletarischen Revolution auf den Abfallhaufen flogen – die neue Zeit brauchte sie nicht. Gebraucht wurde die Haut der Revolution, diese Haut wurde auch lebendigen Menschen abgezogen. Jene, die sich die Haut der Revolution übergezogen hatten, benutzten ihre Worte, ahmten ihre Gebärden nach, hatten jedoch ein anderes Gehirn, andere Lungen, eine andere Leber, andere Augen.
Stalin! Der große Stalin! Möglicherweise war der Mann mit dem eisernen Willen der Willenloseste von allen. Ein Sklave der Zeit und der Umstände, ein ergebener, gehorsamer Diener des heutigen Tags, der die Tür für die neue Zeit aufriss.
Ja, ja, ja … Und jene, die sich nicht vor der neuen Zeit verbeugten, flogen auf den Abfallhaufen.
Jetzt wusste er, wie der Mensch zerspalten wurde. Eine Haussuchung, abgetrennte Knöpfe, eine weggenommene Brille erzeugten im Menschen das Gefühl physischer Nichtigkeit. Im Zimmer des Untersuchungsrichters erkennt der Mensch, dass seine Teilnahme an der Revolution und am Bürgerkrieg nichts bedeutet – sein Wissen, seine Arbeit, alles Unsinn! Und das heißt: Nicht nur physisch ist der Mensch ein Nichts.
Jene, die weiterhin auf ihrem Recht bestanden, Mensch zu sein, wurden zerrüttet und zerstört, zerhackt, zerhauen und ausgehöhlt, damit sie jenen Zustand von Brüchigkeit, Mürbe, Formbarkeit und Schwäche
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