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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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hatte ihm in der Sportabteilung im ersten Stock Schlittschuhe gekauft?
    Genauso seltsam musste denen zumute sein, die denMalachow-Hügel 4 , Verdun oder das Schlachtfeld vonBorodino 5 besichtigen wollten und Kinder, Wäsche waschende Frauen, einen mit Heu beladenen Wagen oder einen Alten mit Harke sahen … Hier, zwischen den Weinbergen, waren die Kolonnen der französischen Soldaten marschiert, waren die Planwagen dahingerollt; dort, wo das Bauernhaus stand, wo die magere Kolchosherde zwischen Apfelbäumen weidete, waren die Regimenter von Hadschi Murat geritten, von hier aus hatte Kutusow, im Klappstuhl sitzend, mit einer Bewegung seiner Greisenhand den Gegenangriff der russischen Infanterie befohlen … Auf dem Hügel, wo staubige Hühner und Ziegen auf steinigem Boden grasten, hatte Nachimow gestanden, hier waren die von Tolstoi beschriebenen Leuchtbomben explodiert, hier hatten Verwundete geschrien, englische Kugeln gepfiffen …
    Einen merkwürdigen Eindruck machten diese nur aus Frauen bestehenden Menschenschlangen auf Alexandra Wladimirowna, diese armseligen Behausungen, diese alten Männer, die Bretter hobelten, diese an Leinen trocknenden Hemden, geflickten Laken, sich schlängelnden Strümpfe, diese Bekanntmachungen, die an den toten Mauern klebten …
    Sie spürte, wie schal Stepan Fjodorowitsch das jetzige Leben schmecken musste, wenn er von den Diskussionen im Bezirkskomitee um die Verteilung von Arbeitskräften, Brettern und Zement erzählte; wie langweilig für ihn die »Stalingrader Prawda« geworden war, die über die Beseitigung der Trümmer, die Räumung der Straßen, den Aufbau von Bädern und Arbeiterkantinen berichtete. Er wurde lebhafter, wenn er ihr von den Bombenangriffen erzählte, von den Bränden, den Besuchen des Armeeoberbefehlshabers Schumilow im »Stalgres«, den deutschen Panzern, die von den Hügeln herab angegriffen und von den sowjetischen Artilleriesoldaten, die diese Panzer mit Kanonenfeuer empfangen hatten.
    In diesen Straßen war das Schicksal des Krieges entschieden worden. Der Ausgang dieser Schlacht hatte die Karte der Nachkriegswelt bestimmt, war zum Maßstab für die Größe Stalins oder die Schreckensmacht Adolf Hitlers geworden. Neunzig Tage lang hatte man im Kreml und in Berchtesgaden nur ein einziges Wort im Sinn gehabt: Stalingrad.
    Stalingrad nahm entscheidenden Einfluss auf die Philosophie der Geschichte und die Gesellschaftssysteme der Zukunft. Der Schatten des Weltschicksals hatte den menschlichen Augen die Stadt verdeckt, die einst ein normales Leben geführt hatte. Stalingrad war zum Signal der Zukunft geworden.
    Die alte Frau, die sich ihrem Haus näherte, befand sich unbewusst in der Gewalt jener Kräfte, die in Stalingrad entfesselt worden waren, in dieser Stadt, wo sie gearbeitet, einen Enkel großgezogen, Briefe an ihre Töchter geschrieben, an Grippe gelitten, Schuhe gekauft hatte.
    Sie bat den Fahrer anzuhalten und stieg aus dem Wagen. Mühsam bahnte sie sich einen Weg durch die menschenleere Straße, von der die Trümmer noch nicht weggeräumt waren, und schaute in die Ruinen hinein. Manche Häuser, die neben ihrem Haus gestanden hatten, erkannte sie, manche nicht.
    Die Fassadenmauer ihres Hauses war stehen geblieben, mit ihren alten, weitsichtigen Augen erblickte Alexandra Wladimirowna durch die gähnenden Fensterhöhlen die Wände ihrer Wohnung, erkannte deren verblasstes Blau und Grün. Aber es gab keinen Fußboden mehr, keine Decken und keine Treppe, auf der sie hätte hinaufsteigen können. Der Brand hatte seine Spuren am Mauerwerk hinterlassen, an vielen Stellen waren die Ziegel von Bombensplittern zernagt.
    Tief erschüttert gewahrte sie die Essenz ihres eigenen Lebens und des Lebens ihrer Töchter, ihres unglücklichen Sohnes und ihres Enkels Serjoscha, ermaß, wie unwiederbringlich ihre Verluste waren und wie schutzlos ihr graues Haupt. Sie betrachtete die Ruinen des Hauses, eine schwache, kranke alte Frau in zerschlissenem Mantel und abgetretenen Schuhen.
    Was erwartete sie noch? Mit ihren siebzig Jahren wusste sie es nicht. »Ich habe das Leben noch vor mir«, dachte Alexandra Wladimirowna. Was erwartete die Menschen, die sie liebte? Sie wusste es nicht. Der Frühlingshimmel schaute durch die leeren Fenster ihres Hauses auf sie herab.
    Das Leben ihrer liebsten Menschen war ungeordnet, verworren und unklar, voll von Zweifeln, Unglück und Fehlern. Wie sollte Ljudmila weiterleben? Wie würde der Familienzwist enden? Was war mit Serjoscha? Lebte

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