Leben und Schicksal
er noch? Wie schwer hatte es Viktor Strum? Was würde aus Vera und Stepan Fjodorowitsch werden? Würde Stepan es schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen, würde er Ruhe finden? Was für ein Lebensweg stand Nadja – der klugen, guten und garstigen Nadja – bevor? Und Vera? Würde die Einsamkeit, das Elend, der schwere Alltag sie überwältigen? Und Genia: Würde sie Krymow nach Sibirien folgen, selbst ins Lager gesperrt werden, genauso umkommen wie Dmitri? Würde der Staat Serjoscha verzeihen, dass seine Eltern unschuldig im Lager umgekommen waren?
Warum waren ihre Schicksale so verworren, so unklar?
Und jene, die gestorben waren, die man ermordet und hingerichtet hatte – sie blieben weiterhin mit den Lebenden in Verbindung. Alexandra Wladimirowna erinnerte sich an ihr Lächeln, ihre Scherze, ihr Lachen, ihre traurigen und betroffenen Augen, ihre Verzweiflung und Hoffnung.
Mitja hatte sie umarmt und gesagt: »Mama, mach dir um mich keine Sorgen. Auch hier, im Lager, gibt es gute Menschen.« Sonja Lewinton, die Schwarzhaarige mit dem kleinen Bärtchen auf der Oberlippe – jung, grimmig und lustig –, hatte Gedichte vorgetragen. Die blasse, immer traurige, kluge und ironische Anja Strum. Tolja hatte gierig Makkaroni mit geriebenem Käse verschlungen und sie mit seinem Schmatzen geärgert; er wollte Ljudmila überhaupt nicht zur Hand gehen: »Nicht mal ein Glas Wasser wird einem gebracht …« – »Schon gut, gut, ich hol’s ja, aber warum nicht Nadja …« Marussenka! Genia machte sich immer lustig über deine schulmeisterlichen Predigten. Du wolltest Stepan unbedingt zum orthodoxen Glauben bekehren … Bist zusammen mit dem Baby Slawa Berjoskin und der alten Warwara Alexandrowna in der Wolga ertrunken. Erklären Sie mir doch, Michail Sidorowitsch … Mein Gott, was kann der schon erklären …
Sie alle hatten unter ihrem ungeordneten Leben, Kummer, heimlichem Schmerz und Zweifeln gelitten, aber die Hoffnung auf das Glück nicht aufgegeben. Die einen hatten sie besucht, die anderen hatten ihr Briefe geschrieben. Und immer hatte sie dieses eigenartige Gefühl gehabt: Es war eine große, einträchtige Familie, aber irgendwo, im tiefsten Herzen, war doch jeder einsam. Und auch sie, die Alte, lebte und wartete auf das Gute, glaubte daran und hatte Angst vor dem Bösen, sorgte sich um das Leben der Lebenden und machte keinen Unterschied zwischen ihnen und denen, die gestorben waren. Da stand sie und betrachtete die Ruinen ihres Hauses, freute sich über den Frühlingshimmel und wusste selbst nicht, worüber sie sich freute, sie stand da und fragte sich, warum die Zukunft ihrer Nächsten so verworren war, warum sie so viele Fehler im Leben gemacht hatten, und bemerkte nicht, dass in dieser Verworrenheit, in diesem Nebel, in diesem Unglück und Durcheinander auch eine Antwort, Klarheit und Hoffnung lagen und dass sie mit ihrer ganzen Seele den Sinn des Lebens begriff, das ihr und ihren liebsten Menschen zuteil geworden war. Und obwohl weder sie selbst noch einer der anderen sagen konnte, was sie erwartete, obwohl sie alle wussten, dass der Mensch in dieser schrecklichen Zeit nicht mehr der Schmied seines Glückes sein konnte und es dem Weltschicksal anheimgestellt war, zu begnadigen oder hinzurichten, zu Ruhm zu erheben oder ins Elend zu stürzen und zu Lagerstaub zu machen, war es dem Weltschicksal, dem verhängnisvollen Lauf der Geschichte, dem Zorn des Staates, dem Ruhm und der Schmach im Schlachtengetümmel doch nicht überlassen, die Wesen zu verändern, die sich Menschen nannten. Was immer sie erwartete – Ruhm für ihre Leistungen oder Einsamkeit, Verzweiflung und Elend, Lager und Hinrichtung –, sie würden als Menschen leben und als Menschen sterben, und jene, die umgekommen waren, hatten es geschafft, als Menschen zu sterben. Darin bestand ihr ewiger, bitterer, menschlicher Sieg über alles Erhabene und Unmenschliche, das es auf dieser Welt gab und geben wird, das kommt und vergeht.
62
An diesem letzten Tag schien sich nicht nur um die Sinne von Stepan Fjodorowitsch, der seit dem frühen Morgen trank, ein Schleier gelegt zu haben. Alexandra Wladimirowna und Vera trafen die Vorbereitungen für die Abreise wie im Rausch. Einige Male kamen Arbeiter und fragten Spiridonow etwas. Er erledigte die letzten amtlichen Dinge, meldete sich beim Bezirkskomitee und beim Wehrersatzamt ab, rief Freunde an, besuchte die Werkhallen, unterhielt sich scherzend mit den Männern, doch als er einen Augenblick allein in
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