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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Fahrerhaus und ich mich auf die Ladefläche.«
    Vera schüttelte den Kopf.
    »Fahr doch«, sagte Alexandra Wladimirowna. »Wenn es mir besserginge, würde ich auch mitkommen.«
    »Nein, auf keinen Fall.«
    Natalja sagte: »Das Leben geht weiter, ihr Witwer und Witwen.«
    Dann fügte sie vorwurfsvoll hinzu: »Du sitzt die ganze Zeit zu Hause, willst nie ausgehen, aber für deinen Vater sorgst du schlecht. Ich habe gestern gewaschen, seine Unterwäsche und Socken sind ganz zerschlissen.«
    Vera nahm das Kind auf den Arm und ging mit ihm in die Küche.
    »Sag, Mitjenka, deine Mama ist doch keine Witwe?«, sagte sie.
    Stepan Fjodorowitsch war in diesen Tagen sehr um Alexandra Wladimirowna bemüht, holte zweimal einen Arzt aus der Stadt, half Vera, ihr Schröpfköpfe zu setzen, steckte der Alten manchmal Konfekt zu und sagte: »Vera brauchen Sie nichts abzugeben. Sie hat schon was bekommen. Das ist extra für Sie, aus der Kantine.«
    Alexandra Wladimirowna begriff, dass Stepan Fjodorowitsch Unannehmlichkeiten hatte. Aber immer wenn sie ihn fragte, ob es Neuigkeiten aus dem Gebietskomitee gebe, schüttelte er den Kopf und schnitt ein neues Thema an.
    Nur an dem Abend, als er von der bevorstehenden Verhandlung seiner Personalsache erfahren hatte, kam er nach Hause, setzte sich zu Alexandra Wladimirowna ans Bett und murmelte: »Was habe ich bloß getan, Marussja würde verrückt werden, wenn sie das erführe.«
    »Was wirft man Ihnen denn vor?«, fragte Alexandra Wladimirowna.
    »Ich hätte mich in jeder Hinsicht schuldig gemacht«, sagte er.
    Natalja und Vera kamen ins Zimmer, das Gespräch brach ab.
    Alexandra Wladimirowna betrachtete Natalja und dachte, dass es diese starke, stolze Schönheit gibt, der auch ein schweres Leben nichts anhaben kann. An Natalja war alles schön – der Hals, der junge Busen, die Beine, die fast bis zu den Schultern entblößten, schlanken Arme. »Ein Philosoph ohne Philosophie«, dachte Alexandra Wladimirowna. Sie hatte oft bemerkt, wie Frauen, die Not nicht gewohnt waren, in schweren Lebenssituationen verblühten und ihr Äußeres vernachlässigten – genau wie Vera. Ihr gefielen die Saisonarbeiterinnen in der Schwerindustrie, die Verkehrspolizistinnen, die in Baracken hausten, in Staub und Schmutz arbeiteten, sich aber eine Dauerwelle machen ließen, sich im Spiegel betrachteten und die abpellende Haut auf der Nase puderten – widerspenstige Vögel im Sturm, die allem zum Trotz ihr Lied weiterzwitscherten.
    Auch Stepan Fjodorowitsch schaute Natalja an, dann nahm er plötzlich Veras Hand, zog sie an sich, umarmte und küsste seine Tochter, als wollte er sie um Verzeihung bitten.
    Da sagte Alexandra Wladimirowna offenbar völlig unpassend: »Was ist denn los, Stepan! Zum Sterben ist es noch zu früh für Sie. Selbst ich alte Frau möchte wieder gesund werden und auf der Welt bleiben.«
    Er warf ihr einen raschen Blick zu und lächelte. Natalja goss warmes Wasser in eine Schüssel, stellte sie neben das Bett, kniete sich hin und sagte: »Alexandra Wladimirowna, ich möchte Ihnen die Füße waschen, es ist jetzt warm im Zimmer.«
    »Sind Sie verrückt geworden! Dummes Ding! Stehen Sie sofort auf!«, schrie Alexandra Wladimirowna.
    60
    Im Lauf des Tages kehrte Andrejew aus der Siedlung des Traktorenwerks zurück.
    Er trat zu Alexandra Wladimirowna ins Zimmer, und sein finsteres Gesicht hellte sich auf – sie war heute zum ersten Mal aufgestanden. Blass, abgemagert saß sie am Tisch, hatte die Brille aufgesetzt und las ein Buch.
    Er erzählte ihr, dass er den Platz lange nicht habe finden können, wo früher sein Haus stand. Die Erde sei aufgewühlt, überall Schützengräben, Bombentrichter, Löcher und Scherben.
    Im Werk seien schon viele Leute, jede Stunde kämen neue an, sogar die Miliz sei schon da. Über die Männer von der Landwehr habe er nichts erfahren können. Jeden Tag würden Menschen begraben und es nehme kein Ende. Man fände immer neue Leichen – in den Kellern, in den Schützengräben.
    Und überall Metall, Schrott …
    Alexandra Wladimirowna stellte ihm Fragen: ob er Mühe gehabt habe, an sein Ziel zu kommen, wo er übernachtet, was er gegessen habe, ob die Hochöfen stark beschädigt seien, wie die Arbeiter versorgt würden, ob Andrejew den Direktor gesehen habe …
    Am Morgen bevor Andrejew zurückgekehrt war, hatte Alexandra Wladimirowna zu Vera gesagt: »Ich habe mich immer über Vorahnungen und Aberglauben lustig gemacht, aber heute, zum ersten Mal in meinem Leben, habe

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