Leben und Schicksal
was ich fühle, entspricht sicher nicht immer der Wahrheit, vieles, was ich empfinde, mag falsch und unbegründet sein. Vor allem aber möchte ich Dir sagen, dass ich mich während dieser neun Jahre meiner Liebe zu Dir vergewissert habe, denn meine Gefühle für Dich haben sich nicht verändert, ich habe Dich nicht vergessen, mich nicht beruhigt, nicht getröstet, die Zeit hat meine Wunden nicht geheilt. Du bist für mich heute genauso lebendig wie an jenem Tag, als wir uns zum letzten Mal sahen, oder wie damals, als ich, ein kleiner Junge, Dir beim Vorlesen lauschte. Und mein Schmerz ist noch genauso stark wie am Tag, als Deine Nachbarin in der Schulstraße mir sagte, Du seist nicht mehr da und es gebe keine Hoffnung mehr, Dich unter den Lebenden zu finden. Meine Liebe zu Dir und dieser furchtbare Kummer werden sich wohl bis ans Ende meiner Tage nicht wandeln.«
1950
»Meine Liebe, seit Deinem Tod sind zwanzig Jahre vergangen. Ich liebe Dich, ich denke an jedem Tag meines Lebens an Dich, und der Kummer hat mich diese zwanzig Jahre auf Schritt und Tritt begleitet.
Ich habe Dir vor zehn Jahren geschrieben, und in meinem Herzen bist Du noch immer genau so, wie Du vor zwanzig Jahren warst. Auch vor zehn Jahren, als ich Dir nach Deinem Tod den ersten Brief schrieb, warst Du wie zu Deinen Lebzeiten – meine Mutter, leibhaftig und in meinem Herzen. Ich bin Du, meine liebe Mutter. Und solange ich lebe, bist Du am Leben. Und wenn ich tot bin, wirst Du in dem Buch weiterleben, das ich Dir gewidmet habe und dessen Schicksal Deinem Schicksal gleicht.
In diesen zwanzig Jahren sind viele Menschen, die Dich geliebt haben, gestorben, Du lebst nicht mehr in Papas Herz und nicht mehr in den Herzen von Nadja und Tante Lisa, sie sind tot.
Und mir scheint, dass meine Liebe zu Dir immer stärker und verpflichtender wird, weil es nur noch so wenige lebendige Herzen gibt, in denen du lebst. Ich habe bei meiner Arbeit während der letzten zehn Jahre ständig an Dich gedacht – meine Arbeit war ganz meiner Liebe und Zuneigung für die Menschen gewidmet, weil ich Dir diese Liebe zurückgeben wollte. Du verkörperst für mich das Menschliche, und Dein furchtbares Schicksal ist das Schicksal des Menschen in unmenschlicher Zeit. Mein Leben lang habe ich mir den Glauben bewahrt, dass ich alles, was in mir gut und ehrlich ist, von Dir habe – wie auch meine Liebe. Das Schlechte, das in mir ist, brauchst Du mir nicht zu verzeihen, das bist nicht Du. Doch Du liebst mich, meine Mama, liebst mich mit allem Schlechten, das in mir steckt.
Heute habe ich, wie in all den Jahren zuvor, einige Deiner Briefe wieder gelesen, die von den Aberhunderten erhalten geblieben sind, die ich von Dir bekommen habe. Ich lese auch Deine Briefe an Papa wieder. Auch heute habe ich beim Lesen wieder geweint. Ich muss weinen, wenn Du schreibst: »Und noch eins, Sjoma, ich halte mich nicht für unsterblich, ich warte immer darauf, dass etwas Schlimmes aus einem Winkel herauskriecht, vielleicht werde ich eines Tages schwerkrank und bettlägerig, was wird dann mein armer Junge mit mir machen, wie viel Leid wird er auf sich nehmen müssen!«
Ich weine, wenn Du, die Du einsam bist und in einem Leben mit mir unter einem Dach den einzigen Lichtstrahl siehst, an Papa schreibst: » … ich finde, Du solltest zu Wassja ziehen, wenn er Platz in seiner Wohnung hat. Ich sage es Dir wieder, weil es mir zurzeit nicht schlechtgeht. Und mach Dir wegen meines Gemütslebens keine Sorgen: Ich verstehe es, meine innere Welt vor der äußeren zu schützen.« Ich weine über diese Briefe, weil Du darin bist – Deine Güte und Reinheit, Dein, ach, so bitteres Leben, Deine Gerechtigkeit, Dein Edelmut, Deine Liebe zu mir, Deine Sorge um die Menschen, Dein wunderbarer Verstand. Ich fürchte nichts, weil mich Deine Liebe begleitet und weil meine Liebe ewig bei Dir ist.
1961
Brief an den Ersten Sekretär des ZK der KPdSU
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1962)
Lieber Nikita Sergejewitsch!
Im Oktober 1960 legte ich der Redaktion der Zeitschrift »Snamja« das Manuskript meines Romans »Leben und Schicksal« vor. Etwa zur gleichen Zeit las auch der Chefredakteur der Zeitschrift »Nowy mir«, Alexander Twardowski, meinen Roman.
Mitte Februar 1961 präsentierten mir Mitarbeiter desStaatssicherheitskomitees 1 einen Haussuchungsbefehl und beschlagnahmten in meiner Wohnung die mir verbliebenen Exemplare der Reinschrift sowie das Urmanuskript und die Entwürfe zu meinem Roman »Leben und
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